Juden und Christen - ein spannungsvolles Verhältnis

Die Ereignisse der letzten Monate haben auch in unserem Volk wieder antisemitische Tendenzen zu Tage gefördert. Ich schäme mich dafür, dass Schweizer nach der systematischen Vernichtung der Juden im "Dritten Reich" sich auch nur zu verbalem Antisemitismus hinreissen lassen.

Die Wurzeln reichen weit zurück

Von verschiedenen zeitgenössischen Theologen und Theologinnen wird die Geschichte des Antisemitismus ins Neue Testament hineingelesen. Sie sehen in gewissen neutestamentlichen Texten die Wurzel für spätere Formen des "christlichen" Antisemitismus. Das kann dazu führen, dass einschlägige biblische Texte sachlich kritisiert werden und sogar der messianische Anspruch Jesu als antijudaistisch bezeichnet und aufgegeben wird.

Bereits im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike hat es Antisemitismus gegeben.1 Eventuelle neutestamentliche Texte sind also sicher nicht der einzige Anstoss für den späteren Antisemitismus. Der "christliche" Antisemitismus hat sich zwar immer wieder auf biblische Texte berufen, aber diese Berufungen sind m.E. nichts anderes als eine fadenscheinige Legitimation für den Judenhass. Das Neue Testament als Ganzes legitimiert auf keinen Fall den Antisemitismus.2

Als im jüdischen Umfeld des ersten Jahrhunderts eine eigenständige Gruppe auftauchte, die sich auf Jesus berief, entstand ein spannungsvolles Verhältnis zwischen Juden und Christen. In diesem Artikel geht es darum, auf diese Spannungen hinzuweisen und sie nicht vorschnell mit Antisemitismus gleichzusetzen.

Jesus und fast alle Hauptfiguren des Neuen Testaments waren bekanntlich Juden. Jesus wuchs in der jüdischen Kultur auf. Seine Worte und Taten lassen sich gut in den jüdischen Kontext jener Zeit einordnen. Er und seine Jünger stellten eigentlich nichts Ungewöhnliches im damaligen Umfeld dar: eine weitere jüdische Sondergruppe neben den Qumranleuten und anderen.
Die Spannungen wurden jedoch durch den Inhalt dessen, was Jesus tat und sagte, ausgelöst. Jesu Anspruch, der Messias Gottes zu sein, stiess auf heftigen Widerstand bei den Führern. So etwas entsprach nicht den jüdischen Erwartungen.3 Mit seinem Leben, Sterben und Auferstehen füllte Jesus diesen Begriff neu. So hatte niemand den Messias erwartet.

Der Tod Jesu wurde oft gegen die Juden verwendet. Historisch gesehen waren jedoch das jüdische und römische Gericht gleichermassen an der Verurteilung Jesu beteiligt. Den Ausschlag im Prozess gab Jesus selbst, indem er durch sein Messiasbekenntnis den Schuldspruch der Richter herbeiführte.4 Der Kreuzestod Jesu hat aber nicht nur diese historische Dimension, sondern Jesus starb stellvertretend für die Sünden der ganzen Welt. Wir, für die Jesus gestorben ist, haben kein Recht, den Juden aus jener historischen Situation einen Strick zu drehen. Wir sind gerechtfertigte Sünder und keine Richter über andere!

Nach dem Neuen Testament ist Jesus nicht nur der Erneuerer Israels, sondern der Retter für alle Völker. Deswegen weitete sich die urchristliche Mission schon früh auf die ganze Menschheit aus. Als Juden und Griechen nebeneinander "Jesus-gläubig" wurden, führte das zu einem neuen Problem: Wie sollen sich die Judenchristen zu den "Heidenchristen" verhalten (Gal 2,11-14)? Auf dem "Apostelkonzil" (Apg 15) wurde diese Problematik angesprochen und nach einer Lösung gesucht. Bis zum Ende der neutestamentlichen Zeit blieben die christlichen Gemeinden im jüdischen Umfeld. Für die Menschen in der damaligen Zeit waren die christlichen Gruppen nicht von den jüdischen zu unterscheiden.

In den Briefen, in denen sich Paulus, der Jude, mit seinen jüdischen Brüdern und Schwestern auseinandersetzt, geht es eigentlich um einen innerjüdischen Streit über theologische Fragen. Paulus schürt keinen völkischen Hass gegen seine jüdischen Geschwister. Dieser würde ja ihn selbst und mit ihm die christlichen Gruppen treffen. Andererseits grenzt er sich aber sehr wohl von seiner jüdischen Vergangenheit ab, auch wenn er mit seinem ganzen theologischen Denken ein Jude bleibt. Die Verbindung zur Geschichte Israels ist für ihn unaufgebbar. Darum ringt er in den berühmten Kapiteln 9-11 seines Römerbriefs.

Spannungsvoller Dialog

Wenn wir das Neue Testament ernst nehmen und unsere christliche Identität nicht aufgeben wollen, dann muss der jüdisch-christliche Dialog ein spannungsvoller bleiben. Das darf aber nichts mit Antisemitismus zu tun haben. Wenn leibliche Geschwister miteinander Konflikte austragen, dann geht es ja auch nicht um die Ausmerzung der Familie.

Übereinstimmungen und Differenzen sollten im jüdisch-christlichen Dialog offen auf den Tisch gelegt werden. Nur so kann ein echt geschwisterliches Gespräch geführt werden.

1 Das Buch Esther und W. Holsten: Art. "Antisemitismus", in RGG, Band 1, Sp. 460ff

2 Markus Zehnder: Antisemitismus im Neuen Testament, Mitenand 4/93, S. 23

3 P. Stuhlmacher: Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 1992, S. 107 - 125

4 O. Betz: Wie verstehen wir das Neue Testament, 1981, S. 43

Datum: 24.06.2010

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