Dekonstruktion bei Jugendlichen – eine Chance?
«Als ich in der Ausbildung zum Krankenpfleger war, konnte ich die Gottesdienste nicht mehr regelmässig besuchen», erzählt Emanuel Hunziker. Er probierte damals aus, wie es wäre, ohne Gott zu leben. Als Sohn eines Pastors hatte er sich bisher vor allem im christlichen Umfeld bewegt, schon als Kind sein Leben Jesus übergeben. Nun begann er, wie seine Kollegen auszugehen oder an der Fasnacht teilzunehmen. Beides war in seinen Kreisen verpönt gewesen. «Ich stellte bald fest, dass ich es nicht besonders cool fand.»
Dennoch hinterfragte er seinen Glauben, wollte nicht einfach in den Fussstapfen seiner Eltern gehen, sondern selbst entscheiden, was oder wer sein Leben prägen soll. Dann entschied er: «Ohne Gott will ich nicht leben, auch wenn noch viele Fragen offen sind.» Während eines späteren Theologiestudiums hinterfragte er seinen Glauben erneut. Diesmal liess er nicht locker, bis er Antworten fand. Er las Bücher, fragte andere nach ihrer Überzeugung und traf Menschen, die ihn dabei ernst nahmen.
Dekonstruktion
Heute gehöre Dekonstruktion zum Zeitgeist – Menschen hinterfragten ihren Glauben, prüften, ob es Kirche überhaupt braucht. Dies betreffe allerdings nicht nur das Christentum. «Wir leben in einer dekonstruierten Gesellschaft», findet Hunziker. Es werde grundsätzlich diskutiert: Was ist Wahrheit? Was ist es wert, sein Leben, Zeit und Geld dafür einzusetzen?
Christliche Gemeinschaften hätten lang eine Blase gebildet und darin Zugehörigkeit vermittelt: «Wenn du bei uns bleibst, kommt alles gut.» Heute sei dies so nicht mehr möglich – dank Internet finde jeder alle möglichen Angebote. «Es ist auch eine Chance, dass Fragen gestellt werden», so der Pastor. «Die Kirche hat und hatte immer schon gute Antworten», findet er. «Heute muss Glaube reif sein, er muss sich mit offenen Fragen auseinandersetzen.» Menschen mit Zweifeln gehörten zur Kirche – schon Jesus sagte: «Überschlag die Kosten, bevor du ein Haus baust.» Jesus nachzufolgen habe einen Preis – aber es koste auch etwas, es nicht zu tun.
Kultur der Annahme
«Für mich hat es sich schlimm angefühlt, das zu hinterfragen, was ich bisher glaubte», gesteht Hunziker. «Aber ich konnte und wollte es nicht ignorieren.» Deshalb sei ihm wichtig, Unsicherheit ernst zu nehmen und hinzuhören, wenn jemand Zweifel äussere. Er wünscht sich eine Kultur, in der sie Platz haben. «Gerade bei der jungen Generation läuft viel über Beziehung», stellt er fest. Sie hätte Zugang zu allen Informationen, doch sie brauchten auch tragfähige Beziehungen, zum Beispiel in einer Gemeinde.
Es sei schwieriger, Jugendliche auf ihrer Suche zu begleiten, statt ihnen eine klare Richtung aufzuzeigen. «Ich will sie weiterhin in der Kirche oder Jugendgruppe willkommen heissen, auch wenn sie nicht mit allem einverstanden sind.» Jedem Menschen müsse die eigene Meinung zugestanden werden. Der dreifache Vater verweist auf Jesus – er fordere dazu auf, eine Entscheidung zu treffen. Wie der Vater des verlorenen Sohns lasse er einen auch ziehen.
Freunde
«Zeig mir deine Freunde und ich zeige dir, wer du bist» – nach diesem Motto empfiehlt der Pastor, genau hinzuschauen, von wem man sich prägen lässt. Er nennt Daniel als Beispiel. Der lebte in Babylon, in einem Umfeld, in dem viele Götter verehrt wurden. «Das Volk Israel wurde aufgefordert, sich in der Fremde niederzulassen, aber die eigenen Werte nicht aufzugeben.» Dies sei eine Schlüsselqualifikation, die es in der heutigen Zeit auch brauche. «Gemeinsam Gott anzubeten, gemeinsam sein Wort zu studieren ist wichtig – doch wir sollen gleichzeitig Licht und Salz sein in unserem Umfeld, die Fragen hören, die unsere Mitmenschen bewegen.»
Zuerst selbst Sauerstoff tanken
Wer andere begleite, müsse auch sich selbst in Auge behalten. «Wie im Flugzeug muss man zuerst selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen, bevor man anderen hilft.» Als Jesusnachfolger könne man zuhören, einen Platz offenhalten, wo der Suchende einfach sein könne, mitsamt seinen Zweifeln. Wer mit Jesus Zeit verbringe, dessen Charakter verändere sich. Emanuel Hunziker ist überzeugt: «Wir werden sanfter, weicher, toleranter, liebevoller, gnädiger – die Frucht des Geistes wächst.» So könne eine Beziehung wachsen, die es Zweifelnden ermögliche, den eigenen Glauben neu zu finden.
Sehen Sie sich hier de Talk mit Emanuel Hunziker an:
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Datum: 19.11.2024
Autor:
Mirjam Fisch-Köhler
Quelle:
Livenet