60 Prozent der Weltbevölkerung

Vom Umgang mit Corona in Schamkulturen

Fast zwei Drittel der Menschheit lebt in einem Kontext, in dem der soziale Status oft wichtiger ist als die individuelle Gesundheit. Aber auch unter uns leben viele Menschen aus Schamkulturen, in denen man mit Corona sehr anders umgeht.
Familie mit Mundschutz unterwegs

Im Moment sind die meisten Länder, die am härtesten vom Coronavirus getroffen wurden, «westliche» Länder, die eher individualistisch geprägt sind. Anhand eines Artikels der New York Times lässt sich erahnen, dass in Ländern mit mehr kollektivistischer und schamorientierter Kultur der Umgang mit dem Virus deutlich schwieriger sein wird. Am Beispiel des Irak und des Iran (eines früh und schwer betroffenen Landes) werden vier Hauptprobleme deutlich.

1. Die Schande der Krankheit

Menschen in Schamkulturen weigern sich eher, sich testen zu lassen, weil sie nicht wollen, dass ihre Nachbarn merken, dass sie krank sind. Kranksein ist ein Stigma. Ein Vater sagte zu den Gesundheitsmitarbeitern: «Bitte parkt nicht vor unserem Haus. Ich schäme mich vor meinen Nachbarn. Das ist schwierig für meinen guten Ruf.»

In vielen religiösen Kontexten setzen Menschen Krankheit mit Sünde gleich (wie in der Bibel in Johannes Kapitel 9). Krankheit ist eine göttliche Strafe. Und solchen «Sündern» geht man natürlich aus dem Weg. So ist um den Coronavirus eine Schicht von religiös begründeter Schande.

2. Probleme mit Beerdigungen

Beerdigungsriten sind in Scham- und Kollektivkulturen wichtig. Wo, wann und wie ein Mensch bestattet wird, ist ein Ausdruck seines Status in der Gesellschaft. Die irakische Kultur verlangt, dass die Familie den Gestorbenen unmittelbar reinigt und beerdigt, wenn möglich innerhalb von 24 Stunden. Aber was geschieht in einer Pandemie, wo Leichname verlassen, verloren oder etwa in Massengräbern beerdigt werden? Sie werden von ihrer Familie «vergessen», denn sie kann des Verstorbenen nicht richtig «gedenken». Solch ein Sterben ist ultimative Entehrung. Darum sterben Menschen lieber daheim, wo sie richtig beerdigt werden, als in ein Spital zu gehen und einen unehrenhaften Tod zu riskieren.

3. Angst vor Isolation

In kollektiven Kulturen möchten Menschen nicht allein in die Quarantäne. Wir im Westen sind Individualisten und geniessen unser Privatleben. Aber in vielen Kulturen leben Menschen mit ihrer erweiterten Familie in kleinen Räumen. Allein und isoliert sein ist nicht nur fremd, sondern schlimm. Die dauernde Gemeinschaft mit anderen Menschen gibt Sicherheit und Vertrautheit; 14 Tage in Isolation zu leben, ist grausam.

4. Die Familienehre schützen

Das Risiko von Krankheit und Quarantäne riskiert die Ehre der Familie. Wenn ein Mann krank wird, kann er nicht länger seine Frau und Kinder schützen, vor allem wenn er weg von daheim in Quarantäne ist. Ähnlich ist es bei Frauen. Einige Familien fürchten, dass ein krankes weibliches Familienmitglied aus dem Haus entfernt und so sexuell verletzbar ist. Der sicherste Weg, die Familienehre zu schützen, ist, alle zusammenzuhalten, egal ob das die Gesundheit riskiert.

Diese sozialen Werte einer ausgeprägten Kollektiv- und Schamkultur, verbreitet im Nahen Osten, Afrika und Asien, z.T. auch in Südamerika, machen die Bekämpfung der Epidemie deutlich schwieriger. Es ist keine Alternative, ihre tief verwurzelten kulturellen Werte für die öffentliche Gesundheit zu opfern. Regierungen und Behörden müssen Wege finden, dass die Menschen ihre Gesundheit und ihre Ehre retten können – eine grosse Herausforderung. Und ein Gebetsanliegen.

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Datum: 18.04.2020
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / HonorShame / New York Times

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