Aufräumen im Ahrtal

Öl, Dreck – und ganz viel Hilfsbereitschaft

Das Wasser ist weg, die Katastrophe ist noch da: Miriam Becker hat in Altenahr mit angepackt. Und dabei viel menschliche Wärme erlebt.
Das Ausmass der Katastrophe in Altenahr (Bild: Miriam Becker)

Um 5:45 Uhr klingelt mein Wecker. Viel zu früh für einen Sonntag. Wir waren gestern oder vorgestern versucht abzusagen, haben es aber nicht gemacht. Also: Frühstück packen, Wasserflaschen, feste Schuhe, Arbeitshandschuhe, Desinfektionsmittel. Getankt habe ich gestern schon. Um sieben steht meine Nachbarin vor der Tür, eine Freundin von ihr sammeln wir auf dem Weg ein. Knapp zwei Stunden Fahrt liegen vor uns. Die Freundin meiner Freundin und Nachbarin kenne ich nur flüchtig – das wird sich im Laufe des Tages noch ändern. Auf der Fahrt reden wir über die Katastrophe im Ahrtal – die Überflutungen vor fünf Wochen. Die Freundin war schon mal da. Das hat sie geprägt. Sie ist der Grund, warum wir an diesem Sonntag in aller Frühe im Auto sitzen.

Angemeldet haben wir uns über die Hilfs- und Missionswerke Samaritan’s Purse und To All Nations. Ziemlich genau um 9 Uhr trudeln wir in der Freien evangelischen Gemeinde (FeG) Rheinbach ein. Dort warten etwa 30-40 weitere Helfer auf ihren Einsatzplan und Einsatzort. Noch weiss keiner genau, was er wo machen soll. Eines wissen wir alle: Wir wollen helfen. Irgendwie. Und Anteil nehmen. Im Vorfeld war von Hochdruckreinigern und Schlagbohrhämmern die Rede. Eher nichts für uns. Aber es gibt wohl auch so genug zu tun. Ach – und es gibt auch eine Versicherung, die eine kostenlose Unfallversicherung für die Helfer anbietet. Sehr geniale Idee.

Über die App Telegram sollen wir in Verbindung bleiben. Wir melden uns als ein Team an, bekommen einen Kanister Wasserstoffperoxid, zwei Besen, drei Schutzanzüge, drei Schutzbrillen, drei FFP3-Masken, Schwämme, Wurzelbürsten, zwei Pumpen mit Sprühaufsatz und eine Telefonnummer mit Adresse. Meine Freundin ruft dort an – keiner da. Unter einer weiteren Nummer erreichen wir Susanne. Sie hat noch ein anderes Haus, wo sie Helfer empfängt, aber sie kommt dann, so schnell sie kann. 

Die Adresse in Altenahr finden wir schnell. Auf dem Weg dorthin werden wir still und nachdenklich. Wir sehen Bagger, LKW, grosses Gerät, schwer zugängliche Strassen, Gelände aus Schlamm, die erahnen lassen, wie schön es hier wohl mal ausgesehen haben muss. Fassen können wir es nicht. Wir finden die Hausnummer 2. Eigentlich weit genug weg von der Ahr, so denken wir.

Gerade noch ins Dachgeschoss gerettet

Wie wir später erfahren, war kaum etwas weit weg genug von der Ahr – ausser man wohnt weiter oben. Altenahr ist an allen Seiten von wunderschönen, bewaldeten Hügeln, teilweise mit Kletterfelsen umgeben (wir erfahren später, dass es dort ein «Teufelsloch» gibt – aha…). Wenn man hochschaut, ahnt man, wie schön es hier normalerweise sein muss. Was normal ist, wissen die Menschen hier vielleicht schon nicht mehr. Ein anderes Normal ist für sie jetzt Alltag. Sie müssen sich darin zurechtfinden. 

Wir plaudern ein wenig mit dem Nachbarn von Nr. 2 – wie es ihnen geht, will ich wissen. Man lebt damit, höre ich einen Mann mittleren Alters sagen. Ob sie Hilfe hätten, frage ich. «Wenn wir welche brauchen, haben wir auch Hilfe, aber heute besichtigen wir erstmal eine Mietwohnung.» Auch ihr Haus ist aktuell nicht bewohnbar. Weiter frage ich nicht. Ich parke meinen Wagen auf dem Hof von Nr. 2, damit er dem Bagger nicht in die Quere kommt. Dann treffen wir Susanne. Ihre Eltern wohnten in Nr. 2 – konnten sich gerade noch ins Dachgeschoss retten, bevor die Flut kam. Der ganze Keller, das ganze Erdgeschoss stand unter Wasser.

Aus dem Dachgeschoss konnten sie nur noch über die überflutete Nachbarschaft schauen. Beide sind über 80, wohnen jetzt irgendwo in einer Ferienwohnung und Susanne kümmert sich mit ihrem Bruder um das Haus. Die Eltern wurden am nächsten Morgen von Nachbarn aus dem Haus getragen, da alles noch von Schlamm umgeben war. Susanne lebt «übern Berg» in einem anderen Haus. Auch das ist betroffen. Versichert waren die Eltern nicht – zumindest nicht gegen Elementarschäden. Wie viele in der Gegend. Entweder war es einem nicht bewusst oder es war zu teuer, weil es «bekanntes Hochwassergebiet» war. Wie dem auch sei. Masken auf – wir gehen rein.

Es riecht nach Öl, Schlamm und Schimmel

Irgendwie sieht es aus wie ein Rohbau, wir wissen aber, dass es vor fünf, sechs Wochen noch ein wohnliches Zuhause war und der Vater seinen Garten geliebt hat. Kurz nachdem das Wasser weg war, kamen an die dreissig Helfer und haben via Eimerkette den Schlamm heraustransportiert. Abgefahren wurde der von Baggern, die von «irgendwo» kamen und ihn «irgendwo» hingebracht haben. Wer was wohin gebracht hat, ist nicht mehr wichtig.

Es riecht stark nach Öl, Schlamm und auch nach Schimmel. Weitere Helfer haben später den Putz, den Boden und die Deckenverkleidung mit schwerem Gerät entfernt. Was bleibt, sind Wände, Treppen, Fenster, Heizkörper und Dach. Keinen Strom im Haus, nur den direkten Strom für die Trocknungsgeräte, die auch von «irgendwoher» kamen. Geschenkt, geliehen, vielleicht ein oder zwei selbst gekauft.

Im Keller lassen zwei Schubkarren, Eimer, Schaufeln und Schieber erahnen, wieviel hier schon gemacht wurde. Unsere Aufgabe ist, die Wände vor Schimmel zu schützen und das Wasserstoffperoxid aufzubringen. «Hat das jemand schonmal gemacht?» – allgemeines Kopfschütteln. Wir googlen. Aha. So geht das. Wir verdünnen, füllen um, ziehen uns Schutzkleidung an und teilweise gleich wieder aus, weil man drin schwitzt wie doof. Meine Freundin behält den Schutzanzug an. Doch auch mit Brille, den blauen Helfer-T-Shirts, Masken und Schutzbrille sehen wir schon abenteuerlich aus.

Nach einer Weile haben wir eine gute Routine entwickelt. Eine bürstet die Wände ab, die andere sprüht die Chemie auf, die andere arbeitet sie in die Wand ein. Und weiter. Zwischendurch immer wieder mal an die Luft. Der Ölgeruch ist überall. Wir trinken viel Wasser, naschen Pfefferbeisser, Brötchen und was wir sonst so im Auto haben.

Wasserversorgung von der Polizei

Wir sehen Einsatzfahrzeuge vom THW. «Und was ist das?» Ein riesiges blaues Fahrzeug, was wir vielleicht mal im Fernsehen gesehen haben. Ist das ein Wasserwerfer? Was macht der hier? Naja, wenn der Wasser werfen kann, kann er vielleicht auch welches bringen. Wir fragen Susanne später, als sie wieder kurz nach uns schaut. Ja, das ist die Polizei. Am Anfang haben das andere Fahrzeuge gemacht, jetzt fährt die Polizei unentwegt im Ort herum und füllt die Wassertanks, die gefühlt vor jedem Haus stehen. Wie genial! 

Mittags kommen wir zu den Versorgungszelten, einem «Liebe geht durch den Wagen»-Wagen, einem Getränkezelt, etlichen Dixi-Klos und einem riesigen Wassertank mit Seife zum Händewaschen. Hier treffen wir auch Susanne wieder, essen Gulasch- oder Kartoffelsuppe, holen uns einen Kaffee. Alle sind freundlich. Neben uns sitzen ein paar Bauarbeiter – wir vermuten, dass sie zum Baggertrupp gehören. Ihr Deutsch ist sehr brüchig. Die Polizisten aus dem Wasserwerfer haben auch Hunger. Ein Team in grünen T-Shirts mit der Aufschrift «Team Chris» geht an uns vorbei. Etliche andere Teams auch. Auch Anwohner sind unter den Hungrigen.

Corona scheint kein Thema zu sein. Auf der einen Seite seltsam, auf der anderen aber auch beruhigend. Helfen scheint wichtiger als Corona. Und die Sorgen hier sind ganz andere. Wir lassen das alles auf uns wirken, packen noch ein Wasser und ein paar Süssigkeiten ein und gehen wieder zu Hausnummer 2. Wir wollen ja den Keller fertigkriegen. 

Jeder hilft

Wir schaffen es noch bis in die ehemalige Küche mit angrenzendem Wohnzimmer. Bis auf die Wände ist nichts mehr, wie es war. Wir bearbeiten auch hier die Wände und die Decken mit der Lösung, in der Hoffnung, dass es den Schimmel nimmt, den Geruch bindet und es etwas zum Besseren verändert.

Zwischendrin kommen drei Ladies und fragen mich, ob ich Kaffee, Bananen oder sonst was will. »Ihr seid ja süss! Kommt ihr vom Versorgungszelt?» «Nein, wir sind privat.» Sie haben einen Bollerwagen und einen Fahrradanhänger, bestückt mit grossen Kaffeekannen, Milch, Zucker, Bechern, Äpfel, Bananen, Gummibärchen und selbstgebackenen Muffins. Einfach so. Die Anwohner scheinen zu funktionieren, die Helfer versuchen es ein wenig leichter zu machen, wollen helfen, einen kleinen Schritt weiter zu kommen.

Ein Gebet fürs Ahrtal

Wir können nur ahnen, wie lange das wohl noch dauern wird. Wir hoffen und beten, dass die Menschen klarkommen. Dass sie nicht vergessen werden. Nicht von den Medien, nicht von den Politikern, nicht von den Helfern. Dass sie von Gott nicht vergessen werden, wissen wir. 

Wir fahren wieder zurück zur FeG Rheinbach, trinken noch einen Kaffee und sind sehr dankbar über ein «richtiges» Klo. Dann brechen wir gegen 17 Uhr wieder Richtung Heimat auf. Wir sind nachdenklich, erfüllt von den vielen Eindrücken. Auf der Rückfahrt reden wir. Von Susanne, ihren Eltern, dem Wasserwerfer, den unzähligen Helfern, den süssen Kaffee-Ladies – und wie es wohl weitergeht, wie schön es wäre, in Nr. 2 irgendwann zu helfen, die Wände zu tapezieren. Ob wir es noch einmal machen würden? «Auf jeden Fall!» Und wir hoffen, dass wir nochmal für ein oder zwei Tage zum Helfen kommen können.

Wir beten. Und wir sehen einen doppelten Regenbogen. Der eine von den beiden begleitet uns einen grossen Teil der Rückfahrt. Gottes Zusage, dass er uns nicht vergisst. Dass nicht aufhören werden Saat und Ernte, Sommer und Winter. Gegen 19 Uhr sind wir zu Hause und wollen nur aus den Ölklamotten und heiss duschen. Wir sind betroffen und sehr, sehr dankbar. Das muss sich erst noch setzen. Wie muss es den Menschen gehen, für die das gerade schmerzhafter Alltag ist? 

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Datum: 01.09.2021
Autor: Miriam Becker
Quelle: PRO Medienmagazin

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