Die Zeit der langen Finger?

Der Fall Falwells – und was wir lernen können

Der Präsident der Liberty University, Jerry Falwell, ist zurückgetreten. Warum ist sein Fall wichtig, ausser dass es wieder einmal einen Sex-Skandal gibt, eine Zeit der ausgestreckten Finger und der Schadenfreude über eine der grössten christlichen Universitäten der Welt?
Jerry Falwell Jr. (Bild: CBN)
Jerry Falwell Senior

«Dieser Fall ist wichtig, weil es um Jerry Falwell geht und das, wofür er steht», erklärte der schottische Pfarrer David Robertson in einem Kommentar, den wir hier leicht gekürzt wiedergeben:

«Ich will nicht in die Details des Falls gehen, die sind überall zugänglich. Falwell trat zurück, nachdem bekannt wurde, dass seine Frau eine achtjährige Beziehung zu einem jungen Mann hatte, der angab, Falwell hätte von der Beziehung gewusst und sogar zugeschaut.

Die unheilige Allianz

Es ist eine allzu vertraute Geschichte – die Korruption eines christlichen Leiters durch die unheilige Allianz von Macht, Geld und Sex. Falwells Vater, Jerry Falwell Senior, war eine der einflussreichsten Figuren in der amerikanischen Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. Seine «moralische Mehrheit» (Moral Majority) gab die Richtung eines grossen Teils der evangelischen Kirchen in den USA an.

Ohne Schwarz-Weiss zu urteilen: Jerry Falwell sr. hat eine Menge Gutes getan. Die Gründung der Thomas Road Baptist Church oder der Liberty University war nur ein Teil seines Erbes. Aber grundsätzlich hat er grosse Teile der Kirche auf einen verheerenden Kurs gebracht und nutzte die Waffen dieser Welt für die Verbreitung des Evangeliums. Der damalige stellvertretende Stabschef des Weissen Hauses, Karl Rove, war ein brillanter Stratege. Er erkannte, obwohl selbst kein Christ, dass es etwa 25 Millionen Stimmen für die Republikaner zu gewinnen gab; so wurde eine Art faustischer Pakt zwischen einem grossen Teil der Evangelikalen und den Republikanern geschmiedet. Das Ergebnis: Jahrzehntelang wurden die beiden Begriffe praktisch synonym.

Früchte der Heuchelei

Als Ergebnis tauschten viele Kirchenleiter das Prophetische gegen die Politik ein. Sie genossen den Zugang zur Macht und der Vorzugsbehandlung durch die, die sie empfohlen. Das half ihren Bankkonten genauso wie ihrem Dienst – beides hing oft eng zusammen.

Der Skandal um Jerry Falwell jr. ist eine tragische Frucht dieser ungöttlichen und unheiligen Allianz. Wenn die Verkündigung des Evangeliums so eng mit politischen und finanziellen Deals verknüpft wird, führt das schnell zu Kompromissen. Wenn Kirchenleiter und Politiker moralische Themen als Hebel für das Evangelium oder für Politik nutzen, endet das im Desaster und führt gewöhnlich zu dem, was Jesus am meisten verurteilte: Heuchelei. So kann es kommen, dass Becki Falwell über «traditionelle Familienwerte» reden kann, während sie privat eine Affäre hat. Und dass die Liberty University jahrelang Falwells autoritäre Führung duldete und ihm erst noch 10,5 Millionen Abfindung nach Vertrag zahlte.

Die Botschaft wird kompromittiert

Nicht nur wird so «der Name Gottes unter den Heiden gelästert» (Römerbrief, Kapitel 2, Vers 24), sondern die moralischen Werte, für die Falwell öffentlich einstand, werden ernsthaft beschädigt. Heuchelei macht die Botschaft zunichte. In Schottland hatte die katholische Kirche eine starke Stimme in moralischen Fragen bis zum Missbrauchsskandal um Kardinal O'Brien (2015). Heute ist die Kirche in solchen Fragen sehr still.

Wir alle müssen uns mit dem Balken in unserem eigenen Auge beschäftigen und nicht Schadenfreude üben. Wir sollten aber von der amerikanischen Kirche der letzten Jahrzehnte lernen und der Versuchung widerstehen, den Weg der «Moralischen Mehrheit» zu gehen. Wir können das Reich Gottes nicht durch Geld, Berühmtheit, Moralismus und politische Macht herbeiführen.

Auf der anderen Seite sollten wir auch nicht vorschnell mit dem Finger auf andere zeigen, denn Paulus erklärt: «Deshalb darfst du allerdings nicht meinen, du seist entschuldigt, wenn du das alles verurteilst. Denn wer du auch bist: Indem du über einen anderen zu Gericht sitzt, sprichst du dir selbst das Urteil, weil du genau dasselbe tust wie der, zu dessen Richter du dich machst.» (Römer Kapitel 2, Vers 1 NGÜ)

Erlöse uns von unserer eigenen Heuchelei

Christen sind dazu da, das Evangelium zu proklamieren und zu leben und ein Leben zu leben, das Christi würdig ist – einschliesslich der Vergebung. Und wir müssen seine Methoden benutzen, um die Gute Nachricht in eine Gesellschaft zu bringen, die lieber in Verzweiflung spottet als in Hoffnung glaubt. «Ihr lebt unter Menschen, die Gott nicht kennen. Führt darum ein vorbildliches Leben! Sie mögen euch zwar verleumden und als Übeltäter hinstellen, doch wenn sie all das Gute sehen, das ihr tut, lassen sie sich vielleicht eines Besseren belehren und werden das dann zur Ehre Gottes auch anerkennen, wenn er am Tag des Gerichts Rechenschaft von ihnen fordert.» (1. Petrus Kapitel 2, Vers 12 NGÜ)

David Robertson ist Moderator der «Free Church of Scotland» und regelmässiger Kolumnist von «Christian Today»

Zum Thema:
Jerry Falwell Jr.: Evangelikaler Uni-Präsident tritt nach Skandal zurück
Wegen Instagram-Bild: Falwell als Universitäts-Präsident «beurlaubt»
Über eine Milliarde generiert: Grösste christliche Privat-Uni ist ein Wirtschaftsmotor

Datum: 01.09.2020
Autor: David Robertson / Reinhold Scharnowski
Quelle: Christian Today / Bearbeitung Livenet

Werbung
Livenet Service
Werbung