Die Psalmen

«Kein Buch der Bibel ist so ungewöhnlich»

Das Buch der Psalmen ist ein ungewöhnliches Buch. In 150 Gebeten beschreibt es höchst gegensätzliche Gefühle: Freude und Anfechtung, Jubel und Rachewünsche. Was haben uns die Psalmen heute zu sagen? Darüber sprach idea-Redakteur Karsten Huhn mit dem Psalmen-Experten Pfarrer Beat Weber.
Psalm 95
Beat Weber

Er ist Pfarrer der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Linden im Kanton Bern. In einem dreibändigen Werkbuch zu den Psalmen hat er über die Theologie des Psalters geschrieben. Dafür erhielt Weber 2011 den Johann-Tobias-Beck-Preis der Arbeitsgemeinschaft für evangelikale Theologie.

Herr Pfarrer Weber, das Buch der Psalmen ist ein seltsames Buch. Warum?
Weil es so gegensätzlich ist: In den Psalmen wird gelobt, gejauchzt und gejubelt und dann wieder geseufzt und gezweifelt. So ist das Leben! Diese Gegensätzlichkeit findet sich auch im Neuen Testament: Christen sind in der Welt, aber nicht von der Welt (Johannes 17,12–16). Auf der einen Seite wissen wir von unserer Heimat im Himmel mit ihrem Jauchzen und Jubeln, zugleich leben wir aber auf dieser Erde mit ihrem Seufzen. Das Leben besteht eben nicht nur aus Lobpreis. Interessanterweise gibt es im Verlauf der 150 Psalmen aber eine Entwicklung von der Klage hin zum Lobpreis. Am Anfang des Psalmenbuches dominieren die Klagepsalmen; im Laufe des Buches wird der Ton immer heller, bis er im Schlussakkord des 150. Psalms gipfelt: «Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!»

Das hebräische Wort Psalmen bedeutet «Lobgesänge». Dabei sind mehr als die Hälfte der Psalmen Klagelieder. Warum wird in den Psalmen so viel gejammert?
Entscheidend ist eben das letzte Wort – und das ist das Lob Gottes. Aber es ist sehr menschlich, dass Klagen und Bitten dominieren. Die Psalmenbeter jammern aber nicht, sondern sie klagen.

Was ist der Unterschied?
Die Klage wendet sich an Gott als Adressaten – und wir können alles, was uns bewegt, ins Gebet nehmen. Dagegen dreht sich das Jammern um sich selbst: Man kann eben nicht «zu Gott jammern». «Zerbrich ihnen die Zähne im Maul».

Zu den Psalmen gehören auch Rachewünsche. Zum Beispiel betet David mit Blick auf seine Feinde: «O Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul» (Psalm 58,6). Dürfen wir so beten?
Ja, man darf – in bestimmten Situationen! Erstaunlicherweise nehmen heute manche Psychotherapeuten solche Psalmworte in ihre Behandlung auf. Es ist wichtig, Ungerechtigkeit nicht einfach unter den Tisch fallenzulassen, sondern aussprechen zu dürfen. Gott ist eben nicht nur der Gott der Liebe, sondern auch der Gerechtigkeit. Und wenn wir Gerechtigkeit nicht selbst wiederherstellen können, dann wird sie eben Gott anempfohlen. Das ist besser, als Selbstjustiz zu üben.

Wohl am drastischsten formuliert es Psalm 137,8–9: «Tochter Babel, du Verwüsterin! Wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! Wohl dem, der deine Kinder nimmt und sie am Fels zerschmettert!»
Das klingt schrecklich, und ich will es auch nicht schönreden. Hintergrund ist die gewaltsame Eroberung und Deportation Israels nach Babylon. Im Buch der Klagelieder ist beschrieben, dass die Not so gross war, dass Israels Mütter sogar ihre eigenen Kinder kochten (Klagelieder 4,10). Nur wenn man diese Situation vor Augen hat, wird ein solcher Wunsch vielleicht verständlich. Dieses Bibelwort lässt sich nicht in unsere Friedenszeit in Europa übertragen. Wenn wir aber selbst Krieg und Gräueltaten erleben müssen, kann dieser Psalm für uns eine neue Bedeutung erlangen.

In Gottesdiensten werden oft nur die angenehmen Psalmverse zitiert. Die anstössigen Worte lässt man gerne weg.
Psalm 139 ist ein Beispiel dafür. Sehr beliebt ist Vers 5: «Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.» Seltener hört man von den Versen, die am Ende folgen: «Ach Gott, dass du tötetest die Gottlosen, und dass doch die Blutgierigen von mir weichen müssten!» (Vers 19). Wir sollten die Psalmen aber nicht beschneiden, sondern auch in ihren dunklen Seiten zur Geltung kommen lassen.

Nichts zitiert Jesus häufiger als die Psalmen.

Dann gibt es wiederum ganz sanfte Psalmen: «Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft. Er ist mein Fels und mein Heil, meine hohe Burg» (Psalm 62,1–2).
So wie man sich damals bei Bedrohungen in eine Felskluft oder in die Sicherheit einer Burg flüchtete, finden wir bei Gott Zuflucht. Die Bibel beschreibt Gott in Bildern, die tiefer in uns einsinken, als es abstrakte Begriffe wie «Sicherheit» und «Beständigkeit» vermögen. Wir verstehen solche Bilder intuitiv, selbst wenn in unserer Kultur Felsen, Burgen oder auch Hirten keine grosse Rolle mehr spielen.

Was auffällig ist: Kein Buch wird von Jesus Christus und den Autoren des Neuen Testaments häufiger zitiert als die Psalmen.
Vor allem mit den «Königspsalmen» (Psalm 2; 110 und andere) verband sich die Hoffnung auf den kommenden Messias. Das Warten auf einen grösseren König als David – also auf den Messias – kam nicht aus dem luftleeren Raum, sondern hat sich über Jahrhunderte aufgebaut. Diese Psalmen sind Jesus wie auf den Leib geschneidert. Jesus hat die Psalmen intensiv gebetet, etwa das berühmte Wort am Kreuz: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen» (Matthäus 27,46 aus Psalm 22,1).

Der Psalm geht weiter mit den Worten: «Ich heule; aber meine Hilfe ist ferne …»
Viele Ausleger gehen davon aus, dass Jesus den ganzen Psalm 22 gebetet und Matthäus nur den Anfang zitiert hat. In der Mitte wendet sich dieser Psalm dann zum Dank: «Dich will ich preisen in der grossen Gemeinde … Es werden gedenken und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden.» Damit lassen sich auch die Folgen von Jesu Erlösungstat am Kreuz beschreiben.

Danach folgt Psalm 23, der mit Abstand bekannteste Psalm: «Der Herr ist mein Hirte».
Die Zusammenstellung der Psalmen ist nicht zufällig. Die Psalmen sind eben keine

Loseblattsammlung oder ein Telefonbuch, das man ja auch nur selektiv liest. Vielmehr ähneln sie einem Stationenweg, einem spirituellen Reiseführer. Um die Zusammenhänge wahrzunehmen, sollte man die Psalmen deshalb nicht nur einzeln lesen, sondern auch als ganzes Buch. Ich empfehle deshalb, immer mehrere Psalmen hintereinander zu lesen.

Aber wer liest heute schon noch die Psalmen? Der Schriftsteller Heinz Piontek (1925–2003) schrieb dazu: «Ich bin ziemlich sicher, dass heutzutage ausser unseren Geistlichen nur noch wenige in den Psalmen des Alten Testaments lesen. Ein paar Bibeltreue wahrscheinlich, einige kranke alte Menschen, vielleicht auch ein junger Dichter, der bei Bertolt Brecht (1898–1956) gelernt hat, wie gut Martin Luthers (1483–1546) kräftiges oder fein gestimmtes Deutsch in unserer Zeit noch zu gebrauchen ist …»
Ich hoffe, dass er unrecht hat! Ich vermute, dass von den 66 Büchern der Bibel das Psalmenbuch noch immer zu den meistgelesenen gehört. Zudem sind die Psalmen auch in vielen Kirchenliedern präsent.

Was habe ich davon, wenn ich die Psalmen lese?
Das ist eine typisch moderne Frage. Die Psalmen sind beglaubigte Gebete, die mich mit Gott in Beziehung bringen. Luther bezeichnete die Psalmen auch als «kleine Bibel», das heisst, sie enthalten eigentlich bereits alles, was in der Bibel vorkommt: Klage und Lobpreis, Geschichte und Weisheit. Die Psalmen sind Worte, die seit Jahrhunderten gebetet und von Gott erhört wurden. Zugleich sind sie Gottes Wort: Ich kann mit Gottes eigenen Worten zu ihm beten.

Das klingt verrückt!
Das empfand auch Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) so. Er schrieb dazu: «Es ist zunächst etwas sehr Verwunderliches, dass es in der Bibel ein Gebetbuch gibt. Die Heilige Schrift ist doch Gottes Wort an uns. Gebete aber sind Menschenworte. Wie kommen sie daher in die Bibel? Wir dürfen uns nicht irremachen lassen: Die Bibel ist Gottes Wort, auch in den Psalmen … Wir begreifen es nur, wenn wir daran denken, dass wir das rechte Beten allein von Jesus Christus lernen können, dass es also das Wort des Sohnes Gottes, der mit uns Menschen lebt, an Gott den Vater ist, der in der Ewigkeit lebt. Jesus Christus hat alle Not, alle Freude, allen Dank und alle Hoffnung der Menschen vor Gott gebracht. In seinem Munde wird das Menschenwort zum Gotteswort, und wenn wir sein Gebet mitbeten, wird wiederum das Gotteswort zum Menschenwort. So sind alle Gebete der Bibel solche Gebete, die wir mit Jesus Christus zusammen beten, in die er uns hineinnimmt und durch die er uns vor Gottes Angesicht trägt – oder es werden keine rechten Gebete; denn nur in und mit Jesus Christus können wir recht beten.»

In den Psalmen werden Gott viele Fragen gestellt, aber nicht beantwortet, zum Beispiel Psalm 10,1: «Warum stehst du so ferne, verbirgst dich zur Zeit der Not?»
Zum Glück muss ich diese Frage nicht beantworten! Sie ist an Gott gerichtet und nicht an mich als Ausleger. Das Leben bringt viele für uns nicht beantwortbare Fragen mit sich – und wo sollen wir sie sonst unterbringen, wenn nicht bei Gott?

Aber welche Antwort gibt Gott?
Leider geben die Psalmen nur die eine Seite des Dialogs wieder. Welche Antwort Gott auf die Fragen gibt, erfahren wir in den Psalmen in der Regel nicht. Aber genau das macht die Psalmen auch so authentisch: Wir machen doch auch selbst die Erfahrung, dass Gott uns manchmal ferne steht und sich angesichts unseres Leids verbirgt. Die Psalmen beschönigen das nicht. Manchmal stehen die Psalmen in grosser Schroffheit da, am schlimmsten vielleicht in Psalm 88, in dem fast gar kein Licht mehr ist.

Darin heisst es: «Ich liege verlassen wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, deren du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand abgesondert sind. Du hast mich in die Grube hinuntergelegt, in die Finsternis und in die Tiefe.»

Das Schlimmste ist nicht, wenn Gott als abwesend erfahren wird – sondern wenn ich aufhöre, mit Gott zu reden. Solange wir uns noch an Gott wenden und mit unserer Klage nicht verstummen, besteht Hoffnung! Erst das Verstummen führt in die Gottlosigkeit.

Eine andere offene Frage lautet: «Herr, wie lange sollen die Gottlosen noch prahlen?» (Psalm 94,3).
Ich kenne die Antwort nicht – aber Psalm 73,16–19 spricht gegenüber den Gottlosen, denen es scheinbar gutgeht, eine Warnung aus: «Ich dachte darüber nach, um es zu verstehen; aber es schien mir vergebliche Mühe zu sein, bis ich in das Heiligtum Gottes ging und auf ihr Ende achtete. Du setzt sie auf schlüpfrigen Boden; du lässt sie fallen, dass sie in Trümmer sinken. Wie geschah das so plötzlich und entsetzlich! Sie gingen unter und nahmen ein Ende mit Schrecken.»

Zugleich heisst es in dem Psalm: «Mir aber ist die Nähe Gottes köstlich; ich habe Gott, den Herrn, zu meiner Zuflucht gemacht» (Psalm 72,28). Die anderen kommen um, man selbst wird gerettet – ist das nicht Schwarz-Weiss-Denken?
Das ist keine Besonderheit der Psalmen. Es findet sich auch bei Jesus. Er spricht in der Bergpredigt vom «schmalen Weg» zum ewigen Leben und vom «breiten Weg», der ins Verderben führt (Matthäus 7,13–14). Einen dritten Weg kennt die Bibel nicht.

Ich finde diese Vorstellung zutiefst beunruhigend.
Keiner kommt ja aus Versehen oder aus Unwissenheit auf den Weg des Verderbens. Aber wer sich dafür entscheidet, ohne Gott zu leben, wird auch die Konsequenz dafür zu tragen haben. Beunruhigend fände ich es, wenn jemand bei seinen gottlosen Taten bleibt und am Ende dafür auch noch belohnt würde.

Eine der schwierigsten Menschheitsfragen überhaupt steht in Psalm 8,4: «Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?»
Hier liefert der Psalm ausnahmsweise eine Antwort gleich mit: «Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt» – eine Anspielung auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen in der Schöpfungsgeschichte. Das führt in dem Psalm aber nicht zur Selbstverherrlichung des Menschen, sondern zur Gottesverherrlichung: «Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!» (Psalm 8,9).

Nur wenige Psalmen später dominiert plötzlich ein zutiefst pessimistisches Menschenbild: «Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer» (Psalm 14,3). Wie passt das zusammen?
Beides stimmt! Und dieser Zwiespalt zeigt die ganze Bandbreite des Menschseins: Mit einem Bein steht der Mensch im Himmel und ist nahezu gottgleich – mit dem anderen im Abgrund, und er verhält sich wie ein Teufel.

In Psalm 24,3 heisst es: «Wer wird auf des Herrn Berg gehen, und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte?» Die Antwort: «Der unschuldige Hände hat und reines Herzens ist». Dann müssen wir also alle draussen bleiben!
Die Psalmisten wissen natürlich um die Schuld des Menschen. Um dennoch Zugang zum Tempel zu haben, brachte man deshalb zu Zeiten des Alten Bundes Gott Opfer dar. Seit dem Neuen Bund opfern wir nicht mehr selbst, sondern nehmen das Opfer Jesu in Anspruch, das er am Kreuz für uns vollbracht hat.

Es handelte sich dabei um ein Menschenopfer.
Das Bewusstsein dafür, dass man über eine Schuld nicht einfach hinwegsehen kann, sondern dass sie gesühnt werden muss, ist auch heute sehr gegenwärtig. Bei jedem Unfall, bei jeder Katastrophe und bei jedem Verbrechen fragen wir sofort: Wer hatte daran Schuld? Anstatt darüber einfach hinwegzusehen, beauftragen wir jedes Mal Unfallgutachter, Sachverständige oder Mordkommissare, um den Schuldigen zu ermitteln – und manchmal suchen wir uns dafür auch einen Sündenbock. Hier wird auch wieder die Beziehung zwischen den Psalmen und Jesus Christus klar: Nur wenn wir die Psalmen mit Blick auf Jesus Christus lesen, lassen sie sich in ihrer Tiefe verstehen.

Datum: 21.07.2012
Autor: Karsten Huhn
Quelle: idea

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