Erweckung, Wachstum, neue Menschen!? - Nein, danke!
Manchmal stelle ich mir vor, was passieren würde, wenn sich sonntags noch vor dem Einlass meterlange Schlangen bilden würden, um einen Platz in den Kirchen zu erhaschen. Was würde das mit einer Gemeinde und deren Mitgliedern machen? Wäre es ein Segen für die, die schon vorher da waren? Wäre es wirklich eine Gebetserhörung oder doch eine Prüfung?
Eine Frage, die uns bewegt
Leere Kirchenbänke und leere Gemeindestühle sind alltäglich geworden im deutschsprachigen Europa. Viele Menschen kennen noch von früher eine andere Realität. Andere, wie ich, sind darüber traurig, dass volle Kirchen keine Normalität mehr sind. Warum spricht der Glaube Menschen nicht mehr an? Hat sich die Botschaft überholt oder sind unsere christlichen Antworten auf das Leben nicht mehr relevant? In grossen Kongressen und Veranstaltungen in ganz Deutschland werden diese Fragen diskutiert und Antworten gesucht. Fortbildungen, Innovationsprogramme, neue Studiengänge, vieles in den Kirchen geht diesen inzwischen nach.
Mich bewegt diese Frage. Denn ich erlebe bei Pixel Sozialwerk im Rahmen einer Gemeindekooperation, dass wir die Anzahl der Menschen, die die Gemeinderäume betreten wollen, aufgrund von Überfüllung begrenzen müssen. Sprich: Es wollen mehr Menschen in die Räumlichkeiten der Gemeinde, als räumlich möglich ist. Zur Einordnung: Wir als Pixel Sozialwerk führen von Frühjahr bis Herbst an unterschiedlichen Standorten jeweils wöchentliche Spielplatzfeste durch. Seit 2,5 Jahren veranstalten wir mit einer Erfurter Gemeinde ein Spielplatzfest in Kooperation unweit der Gemeinderäume. In den Wintermonaten wandeln wir das Spielplatzfest in einen Indoor-Spielplatz um und nutzen dafür das Gemeindehaus. Hier haben wir vor zwei Jahren mit ca. 30 Kindern und Eltern gestartet. Inzwischen kommen 180 Teilnehmende pro Woche.
Eine Antwort, die uns an die Grenzen bringt
Ein Traum, oder? Hunderte Menschen, die über den Winter hinweg in die Kirche kommen, die mit dem Pastor sprechen, uns kennenlernen, einen Kaffee geniessen, Spielsachen ausprobieren, Bibelgeschichten höre und einfach einen schönen Nachmittag haben. Menschen, die sonst nichts mit der Kirche zu tun haben, sagen, dass dienstags, der Tag des Indoor-Spielplatzes, ihr Lieblingstag sei. Aber blicken wir nochmal auf die Anfangsfrage zurück. Sind wir dafür bereit? Wollen wir das wirklich? Denn so gross die Freude darüber auch ist, so gross waren auch die Herausforderungen. Wie wird man so einem regelrechten Ansturm gerecht? Woche für Woche kamen mehr Familien. Denn was man dabei nicht direkt wahrnimmt, ist die damit verbundene Arbeit: Fundraising für zehntausende Euros für Spielsachen, zwei bis vier Mitarbeitende jede Woche, stundenlanges Auf- und Abbauen, hunderte Bestellungen mit Spielsachen annehmen und auspacken, hunderte Liter Kaffee kochen, Räume kindersicher umgestalten, putzen, neu planen, ausprobieren, verwerfen, sprechen… Ich bin dankbar für diesen Prozess, die Gemeinde, die Spenden und dafür, dass viele Familien Kirche anders erleben durften und dürfen.
In all den Diskussionen um die Zukunft der Kirche, gesellschaftliche Relevanz und das Erreichen von Menschen wünsche ich mir mehr Fragen zu den Konsequenzen dessen. Unsere Erlebnisse haben mir gezeigt, was Wachstum in der Praxis bedeutet. Gerade in der Dynamik des Wachstums müssen Entscheidungen getroffen werden, Dinge schnell angepackt werden. Nicht nur einmal stand die Frage im Raum, ob wir das überhaupt schaffen könnten? Ob das nicht alles zu viel wird und ob der eigentliche Segen nicht doch ein Fluch ist? Viel zu oft geben wir uns als Kirchen mit «ein bisschen mehr» zufrieden: ein paar neue Gesichter, ein neues kleines Format, ein paar kleine Stellschrauben. Dabei sind, wenn wir die Extrameile gehen, oft ganz neue Dimensionen möglich. Dafür müssen wir aber bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Aber nicht nur am Neuen müssen wir arbeiten, auch das Bestehende müssen wir in den Blick nehmen. Wer regelmässig kommt, freut sich an dem, was er erlebt, und das ist gut so. Der, der nicht kommt, kommt nicht, weil ihn genau das nicht anspricht. Wenn nun viele Menschen neu dazukommen, wird und kann es nicht so bleiben, wie es war. Neue Ideen, Anmerkungen, Interessen und Wünsche werden kommen und die Frage bleibt: Können wir unseren Rahmen dafür erweitern, ohne alles, was war, zu verwerfen?
Ein Auftrag, der uns alle angeht
Die Gemeinde kann danach nicht mehr so sein, wie sie vorher einmal war. Ressourcenfragen noch nicht mal angedacht. Lasst uns daher nicht allein für Wachstum beten, sondern unsere Gemeinden darauf vorbereiten, was es bedeutet, wenn Wachstum geschieht. Lasst uns Menschen attraktive Angebote machen, uns des Wettbewerbs um die Zeit der Menschen bewusst sein und anerkennen, dass Menschen auch ohne uns durch das Leben gehen werden. Aber sie kommen und lassen sich einladen, wenn wir sie sehen und ihrem Leben einen Mehrwert geben möchten. Ich möchte nicht nur hören, was noch vor wenigen Jahrzehnten Menschen in Gemeinde erleben konnten – ich will mitwirken, dass die kommenden Generationen volle Gotteshäuser erleben können.
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Datum: 12.12.2024
Autor:
Erik Reppel
Quelle:
Magazin 3E 04/2024, SCM Bundes-Verlag