Burnout-Expertin Helen Heinemann

Warum Stress glücklich macht

Mehr als die Hälfte der Deutschen stufen ihr Leben als stressig ein. 40 Prozent der Berufstätigen fühlen sich abgearbeitet, jeder Dritte sogar ausgebrannt. Und doch warnt Stress-Expertin Helen Heinemann davor, sein Glück in der Entspannung zu suchen. Sie hat ein Buch geschrieben, mit dem provokativen Titel: «Warum Stress glücklich macht – Oder: Wieso wir aufhören sollten zu entspannen.»
Helen Heinemann
Das Buch von Helen Heinemann

Seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie in der Gesundheitsförderung. 2005 gründete sie in Hamburg das «Institut für Burnout-Prävention». Die Pädagogin Helen Heinemann ist eine vielfach gefragte Expertin für persönliches Krisenmanagement, Burnout und Stress. Jesus.ch hat sich mit ihr unterhalten.

Jesus.ch: Frau Heinemann, warum sind wir heutzutage alle so gestresst?
Helen Heinemann: Sind wir das wirklich? Wir treiben uns selbst mit hohen Ansprüchen an, das stimmt. Wir wollen optimale Entspannung und nicht einfach nur faulenzen. Wir wollen den perfekten Urlaub und nicht einfach nur eine schöne Zeit mit unseren Lieben. Und auch das fröhliche Mahl mit Freunden ist plötzlich nicht mehr so bedeutungsvoll wie eine durchgestylte Gourmet-Küche. Mit diesem Optimierungswahn setzen wir uns und andere unter Druck und verlieren den Kontakt zu unserer Lebendigkeit. Stress im klassischen Sinne ist das aber noch nicht.

Was ist denn Stress?
Ich unterscheide zwischen aktivem und passivem Stress. Dauerhaft Dinge tun zu müssen, die mir nicht liegen oder die mich von meinen eigentlichen Tätigkeiten abhalten, so wie langatmige Meetings, sind eine Belastung, die ich erdulden muss. Das ist passiver Stress. 

Wenn ich dagegen wirksam sein kann, etwas bewege, dann kann ich durchaus sehr verdichtet arbeiten und fühle mich vielleicht auch gerade deshalb glücklich. Das ist dann aktiver Stress.

Gemäss Ihres Buchtitels müssten wir alle ganz schön glücklich sein!
Wir leben in einer Zeit hoher Selbstoptimierung. Das strengt an. Und wenn wir im Vergleich mit anderen regelmässig schlechter abschneiden sind wir sicherlich gestresst, ohne glücklich zu sein. Da hilft dann aber auch keine Entspannung, und sei sie noch so gut. Stress, der glücklich macht, entsteht, wenn wir gemeinsam etwas bewirken – auch wenn es anstrengend ist.

Entspannung ist doch herrlich. Warum sollten wir damit aufhören?
Im Wechsel von Spannung und Entspannung fühlen wir uns lebendig. Eines ist so wichtig, wie das andere. Dauerhafte Entspannung macht uns schlaff, ein pulsierendes Leben findet dann nicht mehr statt. Für unsere Gesundheit brauchen wir den Rhythmus. Entscheidend ist nicht die Spannung oder Entspannung selbst, sondern dass wir den Wechsel von einem Zustand in den anderen selbst bestimmen können.

Dank Handy und Internet sind wir heutzutage immer erreichbar. Erhöht das unseren Stress?
Handy und Internet an sich machen keinen Stress. Im Gegenteil, vieles geht damit leichter von der Hand. Stress mache ich mir selber, wenn ich denke, ich müsste auf alles reagieren, was mich darüber erreicht.

Ich selbst habe bei meinem Smartphone zum Beispiel nur sehr selten den Klingelton an. Ab und zu gucke ich dann mal drauf, ob es wichtige Fragen gibt, die kurzfristig beantwortet werden müssen, damit andere entlastet sind. Um alles andere kümmere ich mich zu einer mir passenden Zeit oder verabrede mich zu einem Telefongespräch.

Wie reagieren gestresste Menschen auf den Titel Ihres Buches?
Zunächst einmal sind sie irritiert. Dann werden sie neugierig. Bislang haben gestresste Menschen ja nur mit Ratgebern zu tun gehabt, die ihnen Vorschläge zur Stressvermeidung und Entspannung gegeben haben. So gut die Tipps dort sind, haben sie oftmals nicht zur erhofften Wirkung geführt. Auf diese Weise bekommen gestresste Menschen noch mehr Stress, weil sie auch noch bei den scheinbar so simplen Lösungsvorschlägen versagen.

Wie kann man positiv mit Stress umgehen?
Stellen Sie sich die Frage, ob die Situation in der Sie sich gerade befinden, in fünf Jahren noch eine irgendwie geartete Bedeutung für Sie haben wird. Können Sie die Frage mit Nein beantworten, machen Sie halblang. Steht hier ein Ja, legen Sie eine kleine Pause ein und machen Sie die Sache gut, denn sie ist wichtig.

Was raten Sie Menschen, die kurz vor einem Burnout stehen?
Machen Sie es Hape Kerkeling nach und gehen Sie auf den Jakobsweg oder eine ähnlich schöne Wanderstrecke. Eine kleine Gruppe, in der man auch länger mal allein sein kann, ist optimal dafür. Vorher sollten Sie aber noch an einem unserer fünftägigen Intensivseminare teilnehmen, um sich mit einem sortierten Gedankengut auf die Reise zu sich selbst zu begeben.

Was macht Ihrer Meinung nach glücklich?
Jeden Tag eine gute Tat. Gemeinschaft. Wirksamkeit.

Sie sind Christ, welchen Einfluss hat das auf Ihre Sichtweise und Ihre Arbeit?
Liebe zur Schöpfung, zum Leben, zu den Menschen.

Zum Buch:
Schweiz
Deutschland

Zum Thema:
Ruhe im Sturm: Auf der Flucht und doch ruhig?
Vorbereitung auf Probleme: Wenn das Leben schwer wird
Folgen einer engen Zeitplanung: Volle Terminkalender sind lieblos

Datum: 05.06.2015
Autor: Miriam Hinrichs
Quelle: Jesus.ch

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung