Das Dienstende als Chance, nicht als Untergang
René Winkler, Sie behaupten: «Wie wir unseren
bisherigen Dienst beenden, entscheidet massgeblich über unsere persönliche
Freiheit und geistliche Leidenschaft.» Warum hängt die Zukunft von einem
Dienstabschluss ab?
Winkler: Weil man loslassen muss – Gelungenes,
Scheitern, Ansprüche, Verantwortung. Je nachdem, wie man hinschaut, kann man
einen falschen Blickwinkel einnehmen. Beim Weggang aus meiner ersten
Pastorenstelle geriet ich in eine Krise, weil ich falsch auf meinen vergangenen
Dienst schaute.
Kam die Krise vor oder nach dem Abschluss des Dienstes?
Beim Übergang, beim Kistenpacken, als ich mich fragte: Was hast du all die Jahre
gemacht, was ist entstanden, was hat sich verändert? Als Pastor fragte ich mich
natürlich auch, ob Menschen zum Glauben an Jesus gekommen und reifer geworden
sind.
Warum führte Sie dies in eine Krise?
Äusserlich war einiges entstanden, aber ich hatte damals den
Eindruck, geistlich sei «nichts» passiert. Ich meinte, dass mein Engagement
vergeblich und die Wirkung nur äusserlich gewesen sei. Erwartungen, die man
selbst an eine Dienstsituation legte, merkt man vor allem dann, wenn man den
Dienst loslässt oder loslassen muss. Eine falsche Perspektive und unangemessene
Ansprüche führen in die Wüste.
Wie schaut man denn «richtig» hin?
Es ist wichtig, aufmerksam und analytisch hinzuschauen, sachlich zu bewerten
und mit anderen darüber zu sprechen. Um nachher innerlich frei zu sein, gilt
es, gut abzuschliessen und es nicht diffus mitzutragen. Je bewusster der
Abschluss, desto eindeutiger die Dankbarkeit, die Demut und die Vergebung.
Geht es eher um eine Analyse der Faktoren und Resultate
als um das Thema Versöhnung?
Versöhnung wird ein Teil sein. Versöhnung im engen Sinn des Wortes, bei
Konflikten oder zerbrochenen Beziehungen, das ist das eine. Da sind Gespräche nötig,
um nachher wieder frei zu sein. Wir gehen aber bei unserem Seminar eher von «normalen» Dienstabschlüssen aus, zu denen unter anderem Konflikte und Enttäuschungen
gehören.
Worum geht es da?
Da geht es zum Beispiel um Selbsteinschätzung. Wir werfen
auch einen kritischen Blick auf unsere Erwartungen. Es geht um Akzeptanz
unserer beschränkten Möglichkeiten und Wirkung. Nebenbei bemerkt ist auch die negative
Wirkung des eigenen Dienstes nur beschränkt, was uns erleichtern kann. Dass
nicht alles gelang, müssen wir akzeptieren und verdauen. Aber es kann helfen,
zu sehen, dass wir ersetzbar sind. Bei richtigen Brüchen braucht der ganze
Prozess vermutlich längere Zeit, speziell wenn jemand seinen Beruf und eine
Aufgabe gezwungenermassen verliert.
Sie halten es für schwieriger, eine Leitungsfunktion
abzugeben als zu übernehmen. Warum?
Mit den Hoffnungen, die Menschen bei Dienstbeginn in einen stecken, lässt sich
relativ gut umgehen. Beim Abtritt wird bewertet – der Abtretende, die Weggefährten
und die Nachfolger bewerten. Dies kann der Abtretende nicht stark beeinflussen,
er ist in gewisser Weise ausgeliefert und ist in dieser Phase wohl sensibler
als bei der Übernahme der Leitungsaufgabe. Die Herausforderung ist, nicht
passiv zu werden. Nach unserer Wahrnehmung tauchen nicht wenige nach Ende ihres
Dienstes auch innerlich unter. Als Leiter wollte man leidenschaftlich etwas
bewegen. Es scheint, dass nicht wenigen in dieser Phase auch die Leidenschaft
abhandenkommt.
Hilft ein Milieuwechsel beim Abgeben einer
Leitungsaufgabe eher oder kann man sich besser entfalten, wenn man es schafft,
die jetzt Verantwortlichen zu unterstützen?
Das hängt sehr davon ab, ob jemand fähig ist, seine Wirkung
zu reflektieren und den Rollenwechsel bewusst zu gestalten. Und es hängt auch
davon ab, wie die Nachfolgerin oder der Nachfolger damit leben kann. Wenn sich
jemand unsicher oder bedroht fühlt, kann die Anwesenheit der bisherigen Leitungsperson
eine Überforderung darstellen. Dies vor allem, wenn der Einfluss dieser Person
vom Umfeld sehr stark und positiv wahrgenommen worden war.
Wie gingen Sie mit solchen Situationen um?
Ich habe einen solchen Wechsel vom Pastor zum Mitglied erlebt. Ich wurde
ermutigt, aus familiären Gründen in der Gemeinde zu bleiben. Ich war dann
allerdings bewusst ein halbes Jahr nicht im Gottesdienst präsent. In meiner
aktuellen Stelle als Mitarbeiter beim tsc behielt ich das Büro, das ich vorher
als Chef des Chrischona-Werkes schon hatte. Auch hier war ich eine gewisse Zeit
komplett abwesend. Die Situation verändert sich in einer neuen Rolle massiv:
Man verliert Aufmerksamkeit und Einfluss, wird weniger oder nicht mehr gefragt.
Man kann die eigene Leitungsarbeit von früher
nicht mehr korrigieren, denn jetzt leiten die anderen. Dem muss jeder bewusst
in die Augen schauen. Ich kenne ehemalige Leiter, die nach Dienstbeendigung in
neuen, zum Beispiel sozialen Tätigkeiten aufblühten.
Gibt es nur 'Learning by Doing' oder kann man sich auf das
Dienstende vorbereiten?
Beides. Das bewusste Gestalten und der Erfahrungsaustausch helfen. Wenn jemand
nie in einer Rechenschaftsstruktur – zum Beispiel mit einem Mentor oder einer
Kleingruppe – war, ist es viel schwieriger. Auch ein Tagebuch kann helfen beim
Reflektieren. Die Schwierigkeiten können auch erst nach einer gewissen Zeit
auftauchen. Zu Beginn kann jemand noch davon leben, dass er der ehemalige
Leiter ist. Irgendwann geht auch diese Aufmerksamkeit verloren. Es ist ein
Lernprozess, mit jeder Etappe umzugehen. Aus Fehlern können wir lernen, wenn
wir sie zugeben. Und es ist entlastend, wenn man sich auch eingesteht, dass es
nicht leichtfällt, die neue Rolle zu lernen.
Wer auch ohne Leitungsfunktion Einfluss nehmen und andere
starkmachen kann, hat aus Ihrer Sicht Leiterschaft in ihrem tiefen Sinn
verstanden. Wie definieren Sie Leiterschaft «in ihrem tiefen Sinn»?
Leiterschaft, die auf Menschen und Gruppen so Einfluss
nimmt, dass sie aufblühen und stark werden. In einer Leitungsaufgabe hat man
eine gewisse Funktionsmacht. Über Kollegen und Vorgesetzte können wir jedoch
nicht verfügen. Wir können aber durch Vertrauen, Ermutigung und gute Worte
einen Beitrag leisten, damit sie ihre Leitungsaufgabe gut wahrnehmen können.
Als ehemalige Leiter hätten wir die Macht, unsere Nachfolger zu schwächen. Aber
wir leben, um andere zu stärken!
Ist das eine grundsätzliche Lebenseinstellung?
Ja! Für mich persönlich habe ich vor vielen Jahren ein Mission-Statement
formuliert, das funktionsunabhängig ist. Ich stellte mir die Fragen, was ich in
allen Umständen für ein Mensch sein will und was meine Berufung ist. Es geht um
ein Berufungsverständnis, das nicht vom Job abhängt. Im Neuen Testament sehe
ich die Berufung zu einer Identität. Die Frage des Jobs ist eine Frage der Führung,
nicht der Identität. Eine Krise im Job stellt nicht die Identität infrage.
Zum Seminar:
Den Ausstieg aus meiner Leitungsaufgabe gestalten
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Datum: 03.08.2021
Autor: David Gysel
Quelle: IDEA Schweiz