Wer bedroht die christlichen Werte?
Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), davor, in der Politik mit Feindbildern oder Pauschalurteilen zu argumentieren. Für Christen in der Schweiz sei es viel wichtiger, sich für ihren Glauben nicht nur mit Worten, sondern auch tatkräftig einzusetzen.
Im Zusammenhang mit der vermehrten Präsenz und Sichtbarkeit von Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften in der Schweiz häufen sich in letzter Zeit Rufe von Politikern nach der «Verteidigung der christlichen Werte», zu denen es «in unserem christlichen Land» wieder zu stehen gilt. Diese Redeweise wirft verschiedene Fragen auf:
Wer sind die Angreifer?
Wer verteidigen will, fühlt sich angegriffen und bedroht. Stellt sich also die Frage, wer die Angreifer oder Angreiferinnen sind, die die christlichen Werte bedrohen. Sind es in erster Linie die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften (sprich: die Muslime), welche die christlichen Werte, das christliche Leben in unserem Land bedrohen? Sind sie dafür verantwortlich, dass viele Menschen – auch Mitglieder der grossen Kirchen – nicht mehr wissen, was Weihnachten bedeutet, kein Tischgebet mehr sprechen und bei Ostern vor allem an Schokoladehasen denken? Liegt es an den anderen Religionsgemeinschaften, dass immer weniger Christen und Christinnen sich unter «Bergpredigt» oder dem «Gleichnis vom barmherzigen Samariter» etwas vorstellen können?
Wer von christlichen Werten spricht, muss eine Vorstellung davon haben, welches die Werte sind, für die Christinnen und Christen in der Nachfolge von Jesus Christus einstehen. Können da Worte wie Liebe, Hoffnung und Vertrauen fehlen? Sind nicht auch Gastfreundschaft und Dialogbereitschaft typisch christlich (und gleichzeitig auch in anderen Religionen und für säkulare Humanisten zentral)?
Ist Abwehr des Christlichen christlich?
Wer christliche Werte verteidigen will, setzt voraus, dass «Verteidigung» eine christliche Haltung ist. Kann man das so sagen? Ist nicht eher das Gegenteil der Fall? Spricht das christliche Evangelium nicht eher von Offenheit, von Gastfreundschaft, von Annahme und Aufnahme? Lauten die einschlägigen Begriffe nicht «Gewaltverzicht», «Versöhnung», ja sogar «Feindesliebe»?
Wer von der Schweiz als einem christlichen Land spricht, muss sich nicht nur die Frage gefallen lassen, wie er zur religiösen Neutralität unseres Staates und zur Religionsfreiheit steht. Er oder sie muss auch Antwort geben auf die Frage, woran man denn erkennen soll, dass in der Schweiz Millionen von Christinnen und Christen leben: Kommt da wirklich die Abwehr des Fremden an erster Stelle? Wäre es nicht naheliegender, von Freiheit, Geschwisterlichkeit, Sorge um das Gemeinwohl und Hilfsbereitschaft für Schutzbedürftige zu sprechen? Von der Feier der Auferstehung und der Menschwerdung? Vom Lob Gottes und von der Klage über den Schmerz in der Welt?
Ginge es den «Verteidigern» des Christentums um solche Haltungen und Handlungen, fiele es mir leicht, mich ihren Forderungen anzuschliessen. Aber wenn es wirklich so wäre, würden sie die «Angreifer» und die «Bedrohungen» des Christentums und seiner Werte anderswo orten: in der Gleichgültigkeit, in der Hartherzigkeit, in der Intoleranz, in der Abgrenzung und Abwehr, im Wegschauen, wo Menschen in Not sind, in der Absolutsetzung von Konsum und Wohlstand etc.
Nüchtern und wachsam sein
Vermutlich werden die angesprochenen «Verteidiger des Christentums» mir vorwerfen, ich sei naiv, ein Gutmensch, ein Idealist. Man dürfe Gewalt und radikalisierte Religion, Intoleranz und religiös verbrämte Abwertung von Frauen, Homosexuellen oder Andersdenkenden nicht verharmlosen. In diesem Punkt stimme ich ihnen zu: Auch Jesus hat nicht nur «Seligpreisungen» verkündet, sondern scharfe Grenzen gezogen, wo die Heiligkeit Gottes und das gute Zusammenleben von Menschen bedroht sind.
Auch die Bibel verpflichtet die Christinnen und Christen dazu, «nüchtern und wachsam» zu sein, verschliesst die Augen nicht vor Gewalt, Hass und Unmenschlichkeit.
Wurzel des Bösen ist nicht bei den Fremden
Aber die Bibel ortet die Wurzeln des Bösen nicht primär bei den anderen, nicht bei den Fremden, sondern im eigenen Herzen der Menschen: in ihrer Anfälligkeit für die Verlockungen des Geldes. In ihrer Neigung, nur an sich selbst zu denken. In der Versuchung, Vermögen zu horten anstatt das tägliche Brot zu teilen. In ihrer Tendenz, den Splitter im Auge des anderen, nicht aber den Balken im eigenen Auge zu sehen.
PS: Wo es darum geht, in den Familien, Schulen und Kindertagesstätten, in den sozialen Medien und in der Presse, in unseren politischen Diskussionen und Volksabstimmungen, in unserem Konsumverhalten und in unserer Wirtschaft, in den Fussballstadien und an den Volksfesten für diese christlichen Werte einzustehen, wäre mir defensives «Verteidigen» zu wenig. Ich wünschte mir, die Christinnen und Christen würden ihre Werte offensiv und engagiert vertreten. Das würde unser Land christlicher machen, aber auch menschlicher – und zugleich hätten religiöse Intoleranz und Vorurteile einen schwereren Stand.
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Datum: 17.06.2016
Autor: Daniel Kosch
Quelle: kath.ch