Trotzdem Hoffnung

«Der Verlust hat uns zusammengeschweisst»

Julia und Patrick mit Selma und Alwin
Das Leben ist manchmal nicht fair. Schicksalsschläge treffen hart. Wie schaffen es Menschen, dennoch die Hoffnung zu bewahren? Priska Lachmann hat eine Familie besucht.

Julia und Patrick leben mit ihren Kindern Selma (4) und Alwin (8 Monate) im Erzgebirge in Sachsen. Sie lernen sich als Jugendliche im Jugendkreis ihrer Kirchgemeinde kennen und lieben. 2010 machen beide ihren Schulabschluss und heiraten ein Jahr später. 2015 wünscht sich Julia, schwanger zu werden. Doch der positive Schwangerschaftstest lässt auf sich warten.

Nach einem Jahr lassen sich beide untersuchen. Doch zwei Tage vor der Auswertung folgte die überraschende Nachricht: Julia hat einen positiven Schwangerschaftstest. Sie ist auf natürlichem Weg schwanger geworden, obwohl ihnen eine künstliche Befruchtung empfohlen wurde. «Wir dachten damals: Gott hat uns nicht vergessen, es hat geklappt!», erinnert sich Patrick und fügt hinzu: «Obwohl es unmöglich war, hat er es möglich gemacht.» «Es war eine leichte Schwangerschaft, ohne Zweifel und ohne Angst. Es war wundervoll», lächelt Julia. Und ergänzt ernst: «Ich habe nie daran gedacht, dass man ein Kind jenseits der 12. Schwangerschaftswoche verlieren kann.» Die gesamte Schwangerschaft beschreiben beide als unbeschwert und leicht. Sie planen eine Entbindung im Geburtshaus. Es gibt keinen Grund für eine Feindiagnostik. Beide ruhen im Vertrauen darauf, dass ihnen ein grosses Geschenk gemacht worden ist. «Wir hatten das Gefühl: Gott kann!», sagen sie.

Unter Schock

Doch dann kommt der 1. Mai 2017 und damit der einschneidendste Tag ihres Lebens. «Wir haben morgens gekocht und gegessen und gemeinsam ein Brettspiel gespielt. Ich sagte zu Patrick mit einem Lachen: ‚Du musst dich langsam mal daran gewöhnen, unser Baby nicht mehr nur Mupfelchen zu nennen, sondern bei ihrem echten Vornamen, Josepha.‘» Es sind nur noch elf Tage bis zum Entbindungstermin. Beim Mittagessen wird Julia bewusst, dass sie schon längere Zeit keine Kindsbewegungen mehr gespürt hat. Sie ruft die Hebamme an und fährt direkt ins Geburtshaus. Grosse Sorgen machen sich beide noch nicht. Am Wehenschreiber findet die Hebamme keine Herztöne. Aber vielleicht ist ja das Gerät kaputt? Die Hebamme macht einen Ultraschall. Es bleibt still. Auch als Laie kann man sehen: Da liegt ein Baby und bewegt sich nicht. Patrick bricht in Tränen aus, Julia steht unter Schock. Sie fahren ins Krankenhaus.

Am 2. Mai wird Josepha abends um 22 Uhr still geboren. In den Stunden nach der stillen Geburt empfinden beide keinen Schmerz, sondern nur Liebe. Sie können sehen, wie schön und wie gross ihre Tochter ist. Sie hat schwarze Haare und sieht Patrick ähnlich. Die Hebammen nehmen Fuss- und Handabdrücke, schneiden eine Haarsträhne ab und ziehen ihr Kleidung an, die beide mit ins Krankenhaus gebracht haben. Eine Sternenkind-Fotografin kommt einen Tag später und macht Bilder von der kleinen Josepha.

Am 16. Mai findet die Beerdigung statt. Familie und Freunde kommen. «Es war eine grosse Wertschätzung, dass so viele mit uns mitgelitten haben», betonen sie. Eine Beerdigung vorzubereiten und einen Sarg auszusuchen, während der leere Stubenwagen noch im Wohnzimmer steht, fühlte sich surreal an. Die Geburtsurkunde abzuholen, die gleichzeitig auch die Sterbeurkunde ist – alles Dinge, mit denen sie sich vorher nie beschäftigt hatten. Doch das grosse Tief kommt erst später.

Das Gefühl, dass Gott schweigt

«Ich war selten wütend auf Gott, ich hatte das Gefühl, dass sie bei ihm gut aufgehoben ist und sie es dort besser hat als auf dieser Welt. Und dass es vielleicht einen Grund gibt, warum er sie schon eher zu sich geholt hat», erklärt Julia. «Das klingt nach einem frommen Spruch, aber ich rede es nicht schön. Ich will nie wieder in diesen damals erlebten Schmerz zurück, aber ich habe Gott nie angeklagt.» Patrick ergänzt: «Der Schmerz war mitunter so gross. Es gab eine Phase, da dachte ich, wir würden es nicht schaffen. Ich hatte Angst, auch Julia zu verlieren und dass wir nie wieder glücklich sein können.» Er habe Gott keine Vorwürfe gemacht. Aber: «Ich hatte viele Fragen nach dem Sinn und nach der Zukunft. Mein Bild von Gott ist in sich zusammengefallen. Beschützt er uns wirklich? Ich hatte das Gefühl, dass Gott schweigt und ich keine Antworten von ihm bekomme.»

In einer Selbsthilfegruppe wird Patrick von einem Mann eingeladen, mit ihm in einer christlichen Band zu spielen. Er sagte zu. Auf einer Jugendveranstaltung kommt nach dem Gottesdienst eine fremde Person zu ihm und sagt: «Du wirst ein guter Vater werden.» Dieser unverhoffte Satz, diese Zusage einer fremden Person wird für das Paar zur Hoffnungsquelle auf glückliche Zeiten. «Diese Zeit war voller Schmerz, aber auch voller neuer Wege, die wir rückblickend nicht missen möchten, auch wenn wir auf die Erfahrung des Verlusts gern verzichtet hätten.»

Unverschämtes Glück

Inzwischen sind Julia und Patrick zweifache Eltern. Selma und Alwin sind in einer Kinderwunschklinik entstanden. Beide empfinden es als grosses Geschenk, dass sie es geschafft haben, zusammen durch die Trauer zu gehen. Sie haben versucht, sich nicht loszulassen. «Wir haben nicht übertrieben viel miteinander gesprochen, haben auch viel mit uns selbst ausgemacht», erinnert sich Julia. Und Patrick ergänzt: «Wir sind uns charakterlich ähnlich, haben wenig Konfliktpunkte.» Obwohl in der Trauerzeit deutlich wurde, dass sie damit unterschiedlich umgehen, haben sie sich im starken Schmerz nicht losgelassen, sondern haben den Verlust zusammen erlebt und jeden Schritt gemeinsam getan.

«Wir hatten unverschämtes Glück, dass wir so einstimmig waren in unseren Entscheidungen», lächelt Julia. «Dass Selma gekommen ist, hat uns ein positives Erlebnis gegeben, uns zusammengeschweisst und auch motiviert.» «Unsere Geschichte fühlt sich leicht an im Vergleich zu vielen anderen», sagt Patrick zurückhaltend. «Ich frage mich: Hätte Gott uns nicht auch anders Lebenserfahrungen lehren können, müssen Menschen wirklich durch so einen Schmerz gehen? Diese Fragen bekommen wir nicht beantwortet und trotzdem hat man das Gefühl, dass die eigene Klage ein Ziel und eine Richtung hat.» Und Julia lächelt: «Und Gott hält es aus.»

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Datum: 14.11.2024
Autor: Priska Lachmann
Quelle: Magazin Family 06/2024, SCM Bundes-Verlag

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