Schweden – Land der Chöre

Wie Gospel eine Gesellschaft bewegt

Ein Auftritt am Stockholmer Gospelchorfestival
In Schweden pflegt man seit über 100 Jahren die Tradition, sich wöchentlich als Chöre zu versammeln. Gospelmusik ist dort besonders beliebt und hat starken Einfluss auf die Gesellschaft. Die Schweiz könnte von diesem Impuls profitieren.

Obwohl die gewöhnlichen Schweden normalerweise zurückhaltend mit Emotionen sind, fühlen sie sich zu emotionalen Ausdrucksformen hingezogen – zur Gospelmusik im Besonderen. Die Gospelmusik wurde dem schwedischen Publikum erstmals im Herbst 1966 vom Örebro-Chor Joybells vorgestellt. Der Festivalleiter und Mitbegründer des Stockholmer Gospelchorfestivals, Lasse Axelsson, ist der Meinung, dass die Musik von den Schweden leicht assimiliert werden kann, da sie der schwedischen Volksmusik sehr nahe steht.

Eine der wichtigsten Persönlichkeiten der schwedischen Gospelmusik, Cyndee Peters, hat festgestellt, dass sogar die säkularen Schweden Gospelmusik annehmen, ohne jedoch den afroamerikanischen und kirchlichen Kontext zu übernehmen. Wie tief die Gospelmusik inzwischen in der schwedischen Gesellschaft verankert ist, zeigte 2004 der Kinofilm «Wie im Himmel» (As it is in heaven). Er wurde nicht nur zu einem Kinoklassiker, sondern auch zu Recht für einen Oscar nominiert. Der Streifen ist ein bewegendes Fest der Musik und des Lebens. Letztes Jahr kam der Film «The Choir» (Kören) in Schweden ins Kino, der 2016 den Tensta Gospel Choir als einer der beliebtesten Chöre Schwedens auf der Reise nach Chicago zu den Wurzeln des Gospels begleitete. 

Jährliches Stockholmer Gospelchorfestival

Im Sommer 1988 organisierten Lasse Axelsson und Maria Nordenback-Kress zum ersten Mal das Stockholmer Gospelchorfestival («Svenska Gospelverkstaden»). 500 Chorsängerinnen und -sänger kamen zusammen und begeisterten mehrere Tausend Gäste. Seither versammeln sich in Stockholm aus Europa und der ganzen Welt alt und jung, um Gospel zu singen und Freude und Lachen zu teilen, wie der YouTube-Clip zum 30-Jahr-Jubiläum zeigt. Das Gospelchorfestival findet alle zwei Jahre statt. Es ist mittlerweile eine gemeinnützige Organisation, die Konzerte, Festivals, Workshops und Reisen organisiert sowie Schulungen für junge Menschen anbietet. Ziel ist es, die Gospelmusik weiter zu verbreiten. Am Festival treten bekannte Chorleiter und Gospelkomponisten aus den USA auf. Eine Besonderheit ist jeweils der Festivalchor mit 1'000 Sängerinnen und Sängern aus ganz Schweden. Das Festival dauert vier Tage und umfasst Konzerte im Freien und geschlossenen Räumen.

Hoffnung des Glaubens teilen

Chorleiter, Dozent und Songwriter Jonas Engström

In Schweden hat die reiche Kultur des Chorgesangs der Gospelmusik zum Aufblühen verholfen. Es ist die Leidenschaft für eine Musik, die berührt und anspricht. Das gemeinsame Lied hat eine einzigartige Fähigkeit, Mauern einzureissen und Brücken zu bauen. Das lässt sich leicht an Jonas Engström ablesen: Er ist Chorleiter, Komponist und leitet heute das Stockholmer Gospelchorfestival. Als er 15 Jahre alt war, hat er zum ersten Mal afroamerikanische Gospelmusik gesungen und dachte: «Wow, das ist es, was ich mit meinem Leben machen will», so Engström zur Online-Plattform Evangelical Focus. «Ich hatte das Gefühl, dass mein ganzes Leben in diese Musik passte, mit all den Kämpfen, der Überwindung und der Hoffnung, die sie beinhaltet.» Als überzeugter Christ sind für ihn Musik und Glaube eng miteinander verbunden. «Gospelmusik ist meine Art, meinen Glauben zu leben und zu teilen», erklärt der Chorleiter. «Es geht um das Erzählen von Geschichten», mit Texten wie: «Das hat Jesus für mich getan, ich muss mir keine Sorgen machen, mein Leben ist in Gottes Hand.»

Chor als Ort des Wachstums

Mit seinem Fokus auf Interaktion und Partizipation ist Jonas Engström ein geschätzter und oft engagierter Chor- und Gospeldozent. Für ihn ist Gospelmusik nicht nur deshalb etwas Besonderes, weil es die Menschen zusammenbringt, wenn sie singen, sondern auch wegen ihrer impliziten Verpflichtung, «zu praktizieren, was man predigt». «Wenn ich 'I'll be there for you' singe, muss ich das in die Tat umsetzen, wenn ich aus der Kirche komme», sagt der schwedische Musiker. Die Texte der Gospellieder sind universell, fügt er hinzu, denn «Erfahrungen von Prüfungen und Kämpfen und ein Bedürfnis nach Hoffnung» sind auch in wohlhabenden Ländern wie Schweden real.

Jonas Engström beteiligt sich seit langem an Inspirationstagen, was 2021 zum Ausbildungsprogramm «Der Chor als Ort des Wachstums – mehr als Musik» führte, das im ersten Jahr mehr als 400 Teilnehmer aus ganz Schweden zusammenbrachte. Jonas Engström ist überzeugt: «Musik sollte sich nicht auf den christlichen Gottesdienst beschränken, sondern eine zentrale Rolle in der Öffentlichkeitsarbeit einnehmen. Manchmal vergessen wir, wie wir den Dienst der Musik zwischen den Menschen nutzen können, um unseren Glauben zu teilen.»

Übrigens: Seit 2010 setzt sich Isabelle Raboud-Schüle als Vertreterin im schweizerischen Unesco-Komitee für das Kulturerbe ein. Sie bemerkt im Magazin «Link», dass einige Traditionen wichtig bleiben, zum Beispiel das Chorsingen: «Es hat sich zwar stark verändert. Heute wird weniger in der Kirche gesungen, aber es gibt immer wieder neue Chöre, die auftauchen – etwa Jugendchöre mit kreativen Projekten. Auch gibt es viele Leute, die Musik schreiben für Chöre, vor allem in der Deutschschweiz.» Ob die Schweizer Kirchen diese Tradition neu beleben können?

Dieser Artikel erschien zuerst auf Dienstagsmail

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Datum: 27.07.2023
Autor: Markus Baumgartner
Quelle: Dienstagsmail

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