Biblisches Missverständnis

Die Sünde von Sodom

Die «Zerstörung von Sodom»
Schon der Name der Stadt «Sodom» hat einen negativen Klang – bis heute. Vielfach denkt man dabei an sexuelle Ausschweifungen. Doch das ist ein Missverständnis: Darum geht es in diesem biblischen Bericht nicht.

Ich wuchs ohne Kinderbibel auf und hörte erst etwas später im Religionsunterricht biblische Geschichten. Manche fand ich faszinierend, andere weniger. Eine hinterliess bei mir zu Beginn ein grosses Fragezeichen: die Rettung von Lots Familie aus dem brennenden Sodom. Ich verstand nicht, wieso seine Frau zu «Salzsäure» erstarrt sein sollte. Eine Salzsäule kannte ich nicht. Ein typisches kindliches Missverständnis.

Doch davon gibt es in der sehr gewalttätigen und krassen Erzählung noch mehr. Bis heute sind viele Christen davon überzeugt, dass in dieser Geschichte Gottes Gericht über die sexuellen Ausschweifungen beschrieben wird, die die Stadt beherrscht hätten. Ist das wirklich so?

Was wird eigentlich erzählt?

Die israelischen Stammesvorfahren Abraham und Sara bekamen Besuch von Engeln in Menschengestalt, die ihnen die Geburt ihres Sohnes voraussagten. Dabei erklärte einer von ihnen, dass sie im Auftrag Gottes nachsehen wollten, ob die Gerüchte über Sodom stimmten: «Das Geschrei über Sodom und Gomorra ist gross, und ihre Sünde ist sehr schwer.» In diesem Fall würden sie die Stadt samt Einwohnern vernichten. Abraham verhandelte mit ihnen: Wenn sie wenigstens zehn Gerechte dort fänden, sollte das Urteil nicht vollstreckt werden. Zwei der Engel gingen nach Sodom und trafen dort auf Lot, Abrahams Neffen. Dieser lud sie zu sich ein, um sie zu schützen, doch abends umringten alle Männer der Stadt das Haus und forderten die Herausgabe der Gäste, «damit wir uns über sie hermachen». Lot bot ihnen stattdessen die eigenen Töchter an, doch die tobenden Nachbarn gaben sich damit nicht zufrieden. Die Engel schützten die Familie allerdings, schlugen die Angreifer mit Blindheit und führten die Familie aus der Stadt. Das Ganze geht noch dramatisch weiter, doch dies ist die Kernhandlung rund um die Stadt Sodom selbst in 1. Mose, Kapitel 19.

Was hat das mit Sexualität zu tun?

Selbstverständlich geht es in dieser Beschreibung um das, was man heute als sexualisierte Gewalt bezeichnet, doch diese ist offensichtlich nicht der Auslöser für das bereits vorher angekündigte Gericht Gottes und erst recht keine wie auch immer geartete homosexuelle Lebensführung. Dass die Männer der Stadt die männlichen Gäste verlangten, um sie zu vergewaltigen, wurde vielfach als Beschreibung einer vorherrschenden Homosexualität verstanden. Deswegen stand der Begriff «Sodomie» lange für gleichgeschlechtlichen Sex oder sogar für Unzucht mit Tieren.

Bei näherer Betrachtung trifft dies allerdings nicht zu. Abgesehen davon, dass die Täter mehr als nur ein Teil der Bevölkerung waren, wie man es bei Homosexuellen annehmen würde, sondern «die Männer von Sodom, Jung und Alt, das ganze Volk» (1. Mose, Kapitel 19, Vers 4), zeigt das Lots Bereitschaft, seine Töchter zu geben, dass diese Männer nicht primär mit anderen Männern verkehren, sondern Gewalt und Macht ausüben wollten. Ein in vielen Punkten ähnlicher Bericht im biblischen Buch Richter unterstreicht dies. Längst ist bekannt, dass solche Vergewaltigung anderer Männer primär nichts mit Sexualität zu tun hat. So geschehen ähnliche Gewaltakte im Gefängnis, im Krieg oder auch in Situationen wie hier, wo eine Stadtbevölkerung scheinbaren Feinden zeigen wollte, wer hier das Sagen hatte. Im Zusammenhang mit dem Bosnienkrieg erklärt Goran Simic dieses Phänomen, «das offensichtlich nur [geschieht], um die Personen zu erniedrigen und sie psychisch zu zerstören». Solche Akte waren und sind schrecklich, haben aber nichts mit sexuellen Präferenzen zu tun.

Was war die «Sünde von Sodom»?

Bleibt die Frage, worin denn die Sünde von Sodom bestand, wenn Homosexualität nicht gemeint ist. Die biblischen Propheten haben eine Antwort darauf. Hesekiel erklärt: «Siehe, das war die Sünde deiner Schwester Sodom: Hochmut, Speise in Fülle und sorglose Ruhe wurde ihr und ihren Töchtern zuteil; aber dem Armen und Bedürftigen reichten sie nie die Hand.» Dass hier nicht von leichter Zurückhaltung bei Hilfeleistungen die Rede ist, unterstreichen alte jüdische Schriften. Im Talmud heisst es zu Sodom unter anderem: «Wenn ein Armer da hinkam, so gab ihm ein jeder [Bewohner] einen Denar, auf dem sein Name geschrieben war, Brot aber gaben sie ihm nicht; wenn dieser dann starb, so kam jeder und nahm den seinigen zurück.» (Sanhedrin 109b) Von solchen perfiden Methoden, dem systematischen Verhindern jeder Hilfe an Notleidende und unterlassener Gastfreundschaft handeln einige Quellen. «Der sexuelle Aspekt wird erst in der christlichen Tradition ab Augustin wichtig genommen», erklärt Ernst Axel Knauf im WiBiLex.

Wer heute behauptet, dass bei uns Zustände wie in Sodom herrschten, hat leider trotzdem recht: Auch wenn es in diesem Abschnitt nicht um Homosexualität geht, so zeigt er doch, dass Gott ein permanentes und menschenverachtendes Drehen um sich selbst verurteilt und zur Rechenschaft zieht. So ist das, was die Bibel hier beschreibt, erschreckend aktuell und immer noch eine Herausforderung für Gesellschaft, Kirchen und Gemeinden.

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Datum: 18.11.2024
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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