Älter werden – Jünger machen
Interessant: Der Begriff «Jüngerschaft» war bis vor etwa 40 Jahren im deutschen Sprachraum so gut wie unbekannt. Man war Christ, hörte am Sonntag die Predigt und las – wenn man ein «guter Christ» war – am Morgen seine Bibel. Erst als Organisationen wie «Jugend mit einer Mission» und andere das systematische «discipleship training» einführten, wurde der Begriff auch in unserem Kulturkreis langsam bekannt – wenn die Praxis auch bis heute nicht einfach ist, denn die herkömmlichen evangelikalen Gemeinden haben kaum Strukturen für Jüngerschaft.
Jüngerschaft hat das zum Ziel, was früher «Heiligung» genannt wurde: die Umgestaltung des Charakters und das Praktizieren der Worte Jesu. Das Neue ist, dass sie systematisch in kleinen Gruppen oder noch besser 1:1 betrieben wird. Ein älterer Christ leitet einen jüngeren an, wie man als Christ lebt. Man teilt das Leben, was viel anspruchsvoller ist, als «nur» am Sonntag eine Lehre zu hören. Das Ziel ist natürlich, dass der «Jünger» oder die «Jüngerin» wiederum das Gelernte anderen weitergibt und eine Kettenreaktion entsteht.
Gegen das Mini-Evangelium
Jüngerschaft ist eine Reaktion auf ein verkürztes Evangelium, das nur von der Vergebung der Sünden und der Bekehrung redet und zu wenig anleitet, das Leben umzugestalten. Fast wichtiger, als «in den Himmel zu kommen», ist dem Neuen Testament, dass Menschen transformiert werden – und damit auch unsere Welt. Christsein ist Leben vor dem Tod.
Lehrlinge Gottes
Jesus teilte drei Jahre lang sein Leben mit relativ wenig Menschen und sandte sie am Schluss aus mit der Anweisung: «Tut dasselbe, das ich euch gelehrt habe» (Johannes-Evangelium Kapitel 13 Vers 15 und Kapitel 20 Vers 21). Ein Jünger ist ein Lehrling. Die Jünger Jesu mussten lernen, wie man glaubt, wie man betet, wie man Kranke heilt, wie man mit Kindern, mit religiösen Fanatikern und mit Geld umgeht, wie man auf Angriffe und Leid reagiert und vieles mehr.
Väter, Söhne, Mütter, Töchter
Später redet das Neue Testament von Vätern, Müttern und jungen Menschen – und betrachtet es als normal, dass die Älteren die Jüngeren anleiten und ihr Wissen weitergeben. Natürlich sind auch Ältere noch Lernende, aber sie haben einen Schatz von Erfahrung, die sie an jüngere Christen weitergeben sollen. Gemeinden müssen Strukturen schaffen, dass solche «Jüngerschaft» und damit Generationen-Transfer möglich wird. Viele jüngere Menschen suchen das, und noch zu viele ältere Christen behalten den Schatz ihrer Glaubenserfahrungen für sich.
Aus Jüngern werden Christen
Der Begriff «Jünger» kommt später im Neuen Testament nicht mehr vor. In Antiochien wurden die Jünger zum ersten Mal «Christen» genannt (Apostelgeschichte, Kapitel 11, Vers 26). Jüngerschaft ist eine Lebensabschnittserfahrung, wie es eine Handwerkslehre auch ist. Irgendwann verinnerlicht man sich das, was man in der Lehre gelernt hat. Christsein heisst ja nicht nur, dass man Christus nachahmen soll, sondern dass Christus – in Form des Heiligen Geistes – im Menschen wohnt (Galaterbrief, Kapitel 2, Vers 20). Wie bei jeder Erziehung und Bildung wird der neue Lebensstil immer mehr zu «innengesteuerten» Angelegenheit. Darum konnte Johannes die – für manche anstössige – Feststellung machen: «Ihr habt alle die Salbung (in euch) und habt es nicht nötig, dass euch jemand belehrt» (1. Brief des Johannes, Kapitel 2, Verse 20 und 27). Jüngerschaft bedeutet darum nicht, Menschen an sich zu binden. Vielmehr sollen junge Christen lernen, den Christus, der in ihnen wohnt, durch sie leben zu lassen.
In einer Zeit, in der das christliche Grundverständnis rapide zurückgeht, kommt darum der Jüngerschaft eine grosse Bedeutung zu. Sie kann eine enorm erfüllende Aufgabe sein – es gibt kaum ein besseres Mittel gegen das Älterwerden. Denn der Auftrag von Jesus gilt nach wie vor: «Geht hin in alle Welt und macht alle Völker zu Jüngern.»
Dieser Artikel erschien zuerst am 01.12.2014 bei Jesus.ch.
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Autor:
Reinhold Scharnowski
Quelle:
Jesus.ch