Er kehrte zurück, um seinen Vater zu töten
«Wenn ich gross bin, werde ich kriminell und ich werde hierher zurückkommen und dich töten», sagte der damals fünf Jährige. Natürlich prügelte Vater – der auch seine Frau schlug – nur noch mehr.
Eines nachts rannte Ronaldo weg. Er rannte und rannte und rannte. Er hörte noch, wie sein Vater nach ihm rief, aber er kehrte nicht um. Der Junge lief und lief, es dürften gegen 20 Kilometer gewesen sein, bis er die brasilianische Stadt Belo Horizonte erreichte. Obdachlos und hungrig wurde er von einem Polizisten aufgegriffen, der ihn in ein Rehabilitationszentrum für Kinder brachte.
«Fabrik» für Kriminelle
Es sollte ein sicherer Hort für Kinder sein. Doch nachlässiges Personal und manche der Kinder sorgten dafür, dass der Zufluchtsort zu einer «Fabrik» für Kriminelle wurde. Ronaldo hatte keine andere Wahl, als sich einer Bande anzuschliessen. «Ansonsten hätte ich nicht lange überlebt.»
Die Bande zwang ihn, in Häuser einzubrechen und zu stehlen. Er wurde mehrfach von der Polizei erwischt und von den Beamten geschlagen. Eines Nachts wurde er von einer rivalisierenden Bande gefangen genommen und in einer Höhle misshandelt. «Sie haben schreckliche Dinge getan.» Aus Angst, dass Ronaldo alles der Polizei erzählen würde, drohten sie, ihn umzubringen. Unerklärlicherweise schrie plötzlich ein Bandenmitglied: «Lasst ihn gehen!» Sie liessen ihn laufen.
Hass auf Vater wächst
Bei all dem wuchs Ronaldos Durst nach Rache an seinem Vater. Wäre der Vater anders gewesen, wäre all das nicht passiert...
Dann fand ihn eine Christin auf der Strasse und brachte ihn in ein christliches Waisenhaus. Dieses unterschied sich sehr von den anderen Rehabilitationszentren. Er bekam Nahrung und Zuneigung. Und er hörte das Evangelium von Jesus Christus. «Ich war überrascht, als ich hörte, dass Jesus mich liebt. Was hatte ich getan, um seine Liebe zu verdienen?»
Gleichzeitig lernte er, dass er seinem Vater vergeben musste. Diese Forderung aus dem Evangelium ärgerte ihn …
«Ich muss ihn töten»
Er erklärte den Leitern der Institution, dass er seinem Vater nicht vergeben könne, sondern dass er ihn töten wolle. «Wenn du den Menschen ihre Sünden nicht vergibst, kann Gott dir auch nicht vergeben», antworteten sie.
Jahrelang brodelte in ihm der Konflikt zwischen Rachedurst und Heilssehnsucht. Wie sollte er das Böse und die Gewalt, die gegen ihn und seine Mutter verübt worden waren, einfach loslassen?
Mit 16 wollte er seinen Vater sehen, um herauszufinden, ob er ihm tatsächlich vergeben kann. Doch wie sollte er überhaupt nach Hause finden? Eines Tages sah er eine Frau mit einem kleinen Mädchen. «Es war, als würde eine Stimme in mir sagen, dass dies meine Mutter ist.» Es war ein unmöglicher Zufall. Elf Jahre waren vergangen, seit er weggelaufen war. Doch von der inneren Stimme gedrängt, ging er zu ihr hin und fragte sie nach der Zeit.
«Ronaldo?»
Sie sah ihn an. «Ronaldo?» fragte sie. «Ja», antwortete er verwundert. Als sie ihn fragte, ob er den Vater sehen will, explodierte ein Pulverfass widersprüchlicher Gefühle in seinem Inneren; er erinnert sich: «Ich wollte sehen, ob er so aussieht wie ich.»
Sein Vater riss seine Augen weit auf, als er ihn sah. «Ich wollte ihm in die Augen schauen, aber ich konnte es nicht», erzählt Ronaldo. «Ich habe nichts gesagt. Er sagte auch nichts. Es herrschte nur morbides Schweigen.»
«Töte mich!»
Plötzlich schlüpfte sein Vater aus dem Zimmer. Anscheinend ging er sich etwas Mut antrinken. «Erinnerst du dich? Als du ein Kind warst, sagtest du, du würdest zurückkommen, um mich zu töten», sagte er zu Ronaldo. «Du hast jetzt die Chance dazu.»
Sein Vater forderte Ronaldos jüngste Schwester Leticia auf, in die Küche zu gehen und ihrem älteren Bruder ein Messer zu bringen. «Dein Bruder wird mich heute umbringen», sagte er zu ihr.
Sie weigerte sich – dreimal. Für ihren Ungehorsam schlug er dem kleinen Mädchen ins Gesicht. In diesem Moment «kam alles zurück, alles, was er gegen mich getan hatte», blickt Ronaldo zurück. «Mein Körper begann vor Wut zu zittern.» Gegen ihren Willen brachte die Kleine das Messer. Der Vater setzte sich auf das Sofa, legte das Messer mit der Spitze an seine Brust, nahm Ronaldos Hand und legte diese an den Griff des Messers. «Töte mich», sagte er zu Ronaldo.
Plötzlich Liebe verspürt
Der Heilige Geist kam über Ronaldo. «Das ist richtig, ich habe dir gesagt, dass ich kriminell werde und dass ich zurückkommen und dich töten werde», sagte er. «Aber mir begegnete eine Liebe, die grösser ist als alles, was du mir jemals angetan hast. (…) In Jesu Namen vergebe ich dir.»
Ronaldo merkte, wie sich etwas veränderte. «Ich fühlte Liebe für meinen Vater, der mir so viel Schmerz, Leid und Wunden zugefügt hat.» Der junge Mann wurde ein neuer Mensch. Er heiratete später und arbeitet heute als Pastor. Auch die Beziehung zu seinem Vater – den er von Zeit zu Zeit besucht – ist sich am Verändern.
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Datum: 29.11.2023
Autor:
Roxy Photenhauer / Daniel Gerber
Quelle:
Godreports / Übersetzt und bearbeitet von Jesus.ch