Eine jüdische Antwort

Rabbi Manis Friedman: «Warum leiden die Gerechten?»

Die Frage nach dem Leid ist eine der grossen Menschheitsfragen. Viele Theologen, Philosophen und (scheinbar) Kluge haben sich an ihr abgearbeitet. Doch je klarer ihre Antwort ausfällt, desto unbefriedigender ist sie für Betroffene. Am Beispiel des Holocausts setzt der jüdische Rabbiner Manis Friedman einen ganz eigenen Akzent.
Rabbi Manis Friedman (Bild: Facebook)

Wer ist schuld am Leid in der Welt? Warum sind so viele Gerechte, Unschuldige und normale Menschen davon betroffen? «Warum geht es mir schlecht?», ist die persönliche Frage. «Und warum mussten sechs Millionen Juden im Holocaust sterben?», ist die globale Ergänzung dazu. Rabbi Mani Friedman (73) nimmt dazu Stellung.

Eine jüdische Perspektive

Das Klischee besagt: Juden sind sehr schnell mit eindeutigen Schuldzuweisungen. Und sie favorisieren ein einfaches Ursache-und-Wirkung-Schema. Haben nicht schon die Jünger von Jesus «gewusst», wie Leiden einzuordnen war? Beim Kontakt mit Krankheit und Leid kamen von ihnen Kommentare wie: «Rabbi, wer hat gesündigt, sodass dieser blind geboren ist, er oder seine Eltern?» (Johannes-Evangelium, Kapitel 9, Vers 2).

Rabbi Mani Friedman dagegen unterstreicht: «Es ist einfach wichtig zu wissen, dass schlechte Dinge, die einem Menschen passieren, nicht beweisen, dass er kein guter Mensch ist. Das ist eine schreckliche Haltung. Einige Leute bezeichnen sie sogar als Judentum.» Und er unterstreicht, dass die Frage nach dem Leiden der Rechtschaffenen eines bereits klärt: dass sie definitiv rechtschaffen sind.

Elie Wiesels Antwort

In einem Vortrag zum Thema «Warum geht es guten Menschen schlecht?» zitiert Friedman den Publizisten und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. «Er gibt die beste Antwort, die vielleicht noch nicht einmal eine Antwort ist.» Jemand fragte Wiesel: «Warum gab es den Holocaust?» Und er sagte: «Es tut mir leid. Das kann ich Ihnen nicht sagen.» Der Mann fragte weiter: «Sie wissen es, aber Sie können es mir nicht sagen?» Und Elie Wiesel antwortete: «Genau. Denn wenn ich es Ihnen sage, werden Sie ein Nazi.» «Wovon reden Sie überhaupt?», meinte sein Gegenüber. «Ich bin doch ein Jude. Wie sollte ich ein Nazi werden?» Wiesels tiefgründige Antwort war: «Sie fragen mich, warum es einen Holocaust gab, weil es Sie umtreibt. Es verstört Sie. Sie können nicht gut schlafen wegen dem, was mit sechs Millionen Juden geschehen ist. Und Sie bitten mich, Ihnen zu erklären, warum es passiert ist. Ich habe eine gute Begründung. Ich werde es Ihnen erklären, und Sie werden sagen: Oh, das ist also der Grund. Jetzt sind Sie mit dem Holocaust zufrieden. Und das macht Sie zu einem Nazi.»

Friedman ergänzt: «Wenn wir also fragen, warum die Rechtschaffenen leiden, warum guten Menschen schlimme Dinge passieren, dann wollen wir letztlich keine Antwort. Jeder, der versucht, darauf zu antworten, begeht eine schreckliche 'Chuzpe', eine unerhörte Dreistigkeit. Sollen wir das etwa rechtfertigen? Erklären? Wir wollen keine Antwort, wenn wir fragen, warum die Rechtschaffenen leiden. Wir beschweren uns darüber, aber wir fragen nicht nach Informationen dazu.»

Friedman stellt klar: «Wenn Sie mit irgendeiner Antwort wirklich einverstanden sind, dann sind Sie ein Monster. Stellen Sie also die Frage wie ein Jude und nicht wie ein Nazi. Es gibt keine gute Antwort. Wenn die sechs Millionen wieder zum Leben erwachen würden, dann wäre alles gut. Jede andere Antwort lässt mich unbefriedigt zurück, wenn ich an den Holocaust denke.»

Rabbi Manis Friedman kam 1946 in Prag zur Welt. Er emigrierte mit seiner Familie nach Kanada. Dort liess er sich zum Rabbiner ausbilden. Friedman ist ein weltbekannter Redner zu jüdischen und sozialphilosophischen Themen. Er gründete eine Hochschule für jüdische Frauen. Und er versucht, orthodoxe Inhalte aus heutiger Sicht neu zu interpretieren.

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Datum: 18.06.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Rabbi Manis Friedman

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